Wege zu Community Health Nursing in Deutschland

Die Diskussion um die Etablierung von Community Health Nursing (CHN) in Deutschland wird in Fachkreisen schon seit einiger Zeit geführt und wurde durch die Aufnahme in den Koalitionsvertrag der „Zukunftskoalition“ regelrecht beflügelt. Als Deutsches Rotes Kreuz sind wir davon überzeugt, dass CHN einen wertvollen Beitrag zu einer wohnortnahen und bedarfsgerechten Gesunderhaltung der Bevölkerung leisten kann, sofern der Versorgungsansatz wirkungsvoll etabliert wird. Dieses Anliegen möchten wir mit einem Thesenpapier unterstützen, das nun in der Version 2.0 vorliegt.

Von der Theorie in die Praxis

Wege zu CHN: Szenarien für die Etablierung eines gemeinde-basierten und gesundheitsfördernden Angebots

Wie kann eine wohnortnahe und bedarfsgerechte, aber auch barrierefrei zugängliche und zukunftssichere Gesundheitserhaltung und medizinisch-pflegerische Versorgung der Bevölkerung gestaltet werden?

Lesen Sie jetzt, wie Community Health Nursing in Deutschland etabliert werden, und zur Bewältigung dieser Herausforderungen beitragen könnte: Wege zu Community Health Nursing in Deutschland - Szenarien für die Etablierung eines gemeinde-basierten und gesundheitsfördernden Angebots.

Thesen für die nationale Etablierung von Community Health Nursing

Das vorliegende Papier zeigt, wie vielschichtig und themenübergreifend sich die Wege zur Etablierung von Community Health Nursing (CHN) in Deutschland gestalten können. Um CHN wirksam umzusetzen und in das Gesundheits- und Gesellschaftssystem zu integrieren, muss die Etablierung a) politisch gewollt sein, und b) fachlich gut umgesetzt werden. Neben dem politischen Willen erfordert dies, tragfähige, strukturelle Rahmenbedingungen zu schaffen, von denen wir insbesondere die folgenden als zentral erachten.

Community Health Nursing kann einen wirkungsvollen Beitrag zu einer gemeinde-basierten und gesundheitsfördernden medizinisch-pflegerischen Versorgung leisten, wenn … 

  1. … es sich um ein flächendeckendes Angebot handelt, das wohnortnah und barrierefrei erreichbar ist.

    Erläuterung: CHN muss flächendeckend ausgerollt werden können, damit die Angebote wohnortnahe und barrierearm erreichbar sind. Dies erfordert einen ausreichend großen Personalaufbau, wie auch die Schaffung entsprechender kommunaler Infrastrukturen. Erst dann können alle Menschen davon profitieren.

  2. … das CHN-Rollenbild voll zur Entfaltung kommen kann, und mit den dazu notwendigen Kompetenzen, Befugnissen und Mandaten ausgestattet wird. 

    Erläuterung: CHNs benötigen zur Ausübung ihrer Aufgaben neue Kompetenzen, Befugnisse und Mandate, die über diejenigen, die den Pflegefachpersonen heute zugestanden werden, hinausgehen. Dies betrifft insbesondere die eigenverantwortliche Durchführung von Heilkunde und die Navigation durch das Versorgungssystem (Lotsenfunktion). 

  3. … das Kompetenzniveau dynamisch mit der (Weiter-)Entwicklung der Pflegeprofession korreliert. 

    Erläuterung: In vielen angloamerikanischen Ländern agieren CHNs auf Masterniveau. Für die Etablierung in Deutschland ist daher zunächst ein Übergang notwendig, der gerade die bereits ausgebildeten und berufserfahrenen Pflegenden wertschätzend berücksichtigt. Gleichzeitig muss weiter an der Professionalisierung und Akademisierung der Pflege gearbeitet werden, damit ein Masterabschluss für das CHN zukünftig auch hierzulande Standard werden kann. 

  4. … sich die Qualifizierung als durchlässig und an das bestehende Pflegebildungssystem anschlussfähig erweist. 

    Erläuterung: Die CHN-Qualifizierung muss an das Pflegeberufegesetz anknüpfen und berufsbegleitend möglich sein. Ein durchlässiges Bildungssystem steigert die Attraktivität der Pflegeberufe, schafft Karrieremöglichkeiten und bringt damit letztlich auch mehr Menschen in Ausbildung und Berufstätigkeit. 

  5. … die notwendige Neuverteilung von Aufgaben in der Gesundheitsversorgung von den bereits etablierten Akteuren kollegial und konstruktiv begleitet wird. 

    Erläuterung: Damit die knappen Personalressourcen im Gesundheitswesen effektiv eingesetzt werden können, braucht es eine Neuverteilung von Aufgaben. CHNs übernehmen international Tätigkeiten, die hierzulande Ärztinnen und Ärzten vorbehalten sind. Diese sollten die CHN-Etablierung kollegial unterstützen. Zudem benötigen die jeweiligen Leistungserbringer Klarheit und Rechtssicherheit über den Handlungsrahmen, insbesondere hinsichtlich Fachaufsicht, Abrechnung und Haftung. 

  6. … die Etablierung vor Ort durch Mentoren, Beförderer und Türöffner unterstützt wird. 

    Erläuterung: CHNs müssen sich in neue Aufgaben und Strukturen einfinden und von den anderen Akteuren in der Gesundheitsversorgung angenommen werden. Dies erfordert die Unterstützung durch geeignete Mentoren, Beförderer und Türöffner vor Ort. 

  7. … sich das Angebot an den tatsächlichen Bedürfnissen und Bedarfen der lokalen Bevölkerung orientiert. 

    Erläuterung: Die CHN-Angebotsgestaltung orientiert sich an den tatsächlichen Gesundheitsbedürfnissen und -bedarfen der Menschen vor Ort. Dies erfordert eine systematische, gesundheitsbezogene Sozialraumanalyse in kommunaler Verantwortung. 

  8. … die Finanzierung systematisch, nachhaltig, und leistungsgerecht durch die sozialstaatlichen Partner erfolgt. 

    Erläuterung: Die Gesundheitserhaltung der Bevölkerung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die eine systematische, nachhaltige und leistungsgerechte Finanzierung durch die sozialstaatlichen Partner erfordert (Bund und Länder, sowie Sozialversicherungsträger und Kommunen). 

  9. … es sich um eine Supplementation (Ergänzung) der bestehenden Angebote handelt, und keine konkurrierenden Strukturen errichtet werden. 

    Erläuterung: Die Etablierung von CHN muss vor dem Hintergrund erfolgen, die bestehenden Angebote in der Gesundheitsversorgung zu ergänzen und nicht etwa zu ersetzen. Zielsetzung ist die Erhöhung der Zugänglichkeit und Bedarfsdeckung für alle Menschen. 

  10. … das CHN-Rollenbild mit realistischen Ansprüchen und Erwartungen angegangen wird.

    Erläuterung: Der Diskurs um die Etablierung von CHN ist von vielen verschiedenen Perspektiven geprägt. Eine realistische Sichtweise ist notwendig, um Anspruch und Wirklichkeit in Einklang zu bringen.

Hintergrund

Während Community Health Nurses (CHNs), gemeinsam mit anderen, hochspezialisierten Pflegerollen (Stichwort: Advanced Practice Nurses), tragende Säulen der nationalen Gesundheitssysteme vieler Länder dieser Erde sind [1], ist der Entwicklungsstand einer wissenschaftlich begründeten, erweiterten Pflegepraxis in Deutschland, bis auf wenige Leuchtturmmodelle im Anfangsstadium [2]. Zumindest dann, wenn internationale Maßstäbe (z.B. Ausbildung auf Masterniveau) angelegt werden.

Diese fehlende Tradition in der professionellen (Weiter-)Entwicklung der Pflegeberufe in Deutschland, wie auch die geringe Akademisierungsquote von maximal 1,75% [3], erschwert die Implementierung von CHN erheblich, da somit nur auf wenige Erfahrungen und beinahe keine strukturellen Voraussetzungen zurückgegriffen werden kann. Um Community Health Nursing über den Status eines Prestigeprojekts hinaus zu entwickeln - und zum Wohle der Bevölkerung flächendeckend und in diesem Sinne egalitär zu etablieren, bedarf es daher gleichfalls der (Weiter-)Entwicklung des gesamten Rollenbildes und Handlungsrahmens der Pflegeberufe.

Herausforderungen in der Gesundheitspolitik

Dabei werden gemeinde-basierte und gesundheitsfördernde Pflegerollen dringend benötigt, um im Rahmen einer Gesamtstrategie zur Stärkung der medizinisch-pflegerischen Versorgung - bzw. der öffentlichen Gesundheit insgesamt einen Beitrag zur Verbesserung des Gesundheitsstatus der Bevölkerung zu leisten und das aus einer Vielzahl an Gründen.

An erster Stelle steht sicher der demografische Wandel, der beinahe alle anderen Treiber vorgibt, denn die Alterung der Gesellschaft beeinflusst wiederum das epidemiologische Geschehen, weshalb von einer Zunahme an chronischen Erkrankungen ausgegangen wird, die zudem durch die Kumulierung von Risikofaktoren über den Lebensverlauf mehrfach auftreten können (Multimorbidität) [4]. In einer aktuellen Studie berichten 58,3% der Frauen und 55,3% der Männer, an mindestens einer chronischen Erkrankung zu leiden [5].

Dies wiederum führt zu Beeinträchtigungen in der funktionalen Gesundheit, wodurch die Zahl der pflegebedürftigen Menschen steigen wird. Aktuellen Prognosen zur Folge sollen bis 2030 ca. 6 Mio. Menschen pflegebedürftig sein (ca. 1,5 Mio. mehr als heute) und diese Zahl wächst schneller als erwartet [6]. Davon sind wiederum die Familien betroffen, deren Gesundheit durch die multiplen Belastungen der (familialen) Pflege messbar schlechter ist [7]. Hinzu kommen die Folgen und Auswirkungen des Klimawandels, die nicht nur zu weiteren Gesundheitsrisiken (z.B. Hitzewellen) führen, sondern auch die Wahrscheinlichkeit für Extremwetterereignisse und andere Gefahrenlagen erhöhen.

Dem gegenüber steht ein Fachkräfteengpass in allen Gesundheitsfachberufen, der sich aufgrund der beschriebenen Steigerungen auf der Nachfrageseite noch verschärfen wird. Eine kürzlich veröffentlichte Prognose [6] geht von einem Mehrbedarf von 180.000 beruflich Pflegenden bis zum Jahr 2030 aus - allein für den Leistungsbereich der Pflegeversicherung. Dies wird auch die ehrgeizige Zielsetzung der Ausbildungsoffensive Pflege (10% Steigerung) nicht abfedern können. Kulturelle und soziale Faktoren, wie die höhere berufliche Mobilität oder die Abnahme der Pflegebereitschaft in der Familie, tragen zusätzlich dazu bei, dass alles dafür getan werden muss, damit die Pflegeberufe attraktiver werden.

COVID-19 - Lessons Learned?

Hinzu kommen die systemimmanenten Schwächen des deutschen Gesundheitswesens, die unter COVID-19 und dem berühmten „Brennglas-Effekt“ noch deutlicher wurden. Dies betrifft insbesondere die Abwesenheit eines Public Health Dienstes, wie ihn viele andere Nationalstaaten haben, in denen der ÖGD als eigenständiger Leistungserbringer fungiert [8]. In Deutschland bewegt sich die öffentliche Gesundheit irgendwo zwischen hausärztlicher Versorgung und Gesundheitsverwaltung, während die Impfzentren in der COVID-19 Pandemie von der Bundeswehr und dem Bevölkerungsschutz betrieben wurden.

Ebenso ist die Primärversorgung, die den Erstkontakt mit dem nationalen Gesundheitswesen herstellt und den Weg durch das Versorgungssystem eröffnet, in Deutschland nur schwach ausgeprägt [9] und auf die vertragsärztliche Versorgung begrenzt [10]. Für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen muss immer ein Arzt aufgesucht werden, selbst wenn es sich um Pflege oder Heil- und Hilfsmittel handelt. Hierbei entsteht ein Nadelöhr-Effekt, welcher Navigation, Koordination und Fallsteuerung, genauso den schwindenden ambulant-ärztlichen Kapazitäten überlässt, wie Gesundheitsedukation und Beratung oder zielgerichtete Verhaltens- und Verhältnisprävention. Für die Antragstellung von Sozialversicherungsleistungen müssen dagegen entsprechende Sozial- oder Pflegeberatungsstellen aufgesucht werden.

Die OECD und die WHO bewerten die Effektivität des deutschen Gesundheitswesens daher auch als durchschnittlich [11]. Als Deutsches Rotes Kreuz haben wir hierzu bereits im Rahmen des Deutschen Resilienz- und Aufbauplans (DARP) umfangreich Stellung genommen [12]. Über den NextGenerationEU Fonds, aus dem der DARP finanziert wird, werden in Österreich gerade Community Nurses etabliert [13], in Deutschland wurde dieser Weg allerdings nicht eingeschlagen.

Weitere Handlungsbedarfe ergeben sich aus regionalen Unterschieden in der Zugänglichkeit [14] sowie Phänomenen der Über-, Unter-, und Fehlversorgung [15] zwischen städtischen und ländlichen Räumen.

Aufgaben- und Tätigkeitsfelder von CHNs

Quellen

[1] Delamaire, M., Lafortune, G. (2010). "Nurses in Advanced Roles: A Description and Evaluation of Experiences in 12 Developed Countries", OECD Health Working Papers, No. 54, OECD Publishing, Paris. Online im Internet [05.06.2023].

[2] BT-Drucksache 19/32662: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Kai Gehring, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Zustand der Pflegewissenschaft in Deutschland vom 08.10.2021. Online im Internet [05.06.2023].

[3] Meng, M., Peters, M. Dorin, L. (2022). Erste Sondererhebung des BIBB-Pflegepanels. Ein aktueller Überblick zu berufsqualifizierenden Pflegestudiengängen. Online im Internet [05.06.2023].

[4] Robert Koch-Institut (Hrsg) (2015). Gesundheit in Deutschland. Kapitel 8. Wie gesund sind die älteren Menschen? Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gemeinsam getragen von RKI und Destatis. Online im Internet [05.06.2023].

[5] Güthlin, C.; Köhler, S; Dieckelmann, M. (2020). Chronisch krank sein in Deutschland. Zahlen, Fakten und Versorgungserfahrungen. Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Online im Internet [05.06.2023].

[6] Rothgang, H. Müller, R. (2021). Barmer Pflegereport 2021. Wirkungen der Pflegereformen und Zukunftstrends. Online im Internet [05.06.2023].

[7] Pinquart, M., & Sörensen, S. (2003). Differences between caregivers and noncaregivers in psychological health and physical health: A meta-analysis. Psychology and Aging, 18(2), 250–267. Online im Internet [05.06.2023].

[8] Augurzky, B., Busse, R., Gerlach, F., Meyer, G. (2020). Zwischenbilanz nach der ersten Welle der Corona-Krise 2020. Richtungspapier zu mittel- und langfristigen Lehren. Online im Internet [05.06.2023].

[9] World Health Organization (2015). Building primary care in a changing Europe. Regional Office for Europe. Kopenhagen. Online im Internet [05.06.2023].

[10] Freund, T.; Everett, C.; Griffiths, P.; Hudon, C.; Naccarella, L.; Laurant, M. (2015). Skillmix, roles and remuneration in the primary care workforce: Who are the healthcare professionals in the primary care teams across the world? International Journal of Nursing Studies 52 (3), S. 727–743. Online im Internet [05.06.2023].

[11] Greß, S., Maas, S., & Wasem, J., (2008). Effektivitäts-, Effizienz- und Qualitätsreserven im deutschen Gesundheitssystem (No. 154), Arbeitspapier. Online im Internet [05.06.2023].

[12] Stellungnahme des Deutschen Rotes Kreuzes e.V. zu dem Entwurf des Deutschen Aufbau- und Resilienzplans (DARP) vom 22.02.2021. Online im Internet [05.06.2023].

[13] Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (2021). Sonderrichtlinie für den österreichischen Aufbau- und Resilienzplan – Maßnahme Community Nursing. Online im Internet [05.06.2023].

[14] Bertelsmann Stiftung (2015). Faktencheck Gesundheit. Regionale Unterschiede in der Gesundheitsversorgung im Zeitvergleich. Online im Internet [05.06.2023].

[15] Friedrich Ebert Stiftung (2011). Gesundheitliche Versorgung in Stadt und Land – Ein Zukunftskonzept. Wiesbaden. Online im Internet [05.06.2023].