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Wege zu Community Health Nursing in Deutschland: Szenarien für die Etablierung eines gemeinde-basierten und gesundheitsfördernden Angebots

Die Diskussion um die Etablierung von Community Health Nursing (CHN) in Deutschland wird in Fachkreisen schon seit einiger Zeit geführt und wurde durch die Aufnahme in den Koalitionsvertrag der „Zukunftskoalition“ regelrecht beflügelt. Als Deutsches Rotes Kreuz sind wir davon überzeugt, dass CHN einen wertvollen Beitrag zu einer wohnortnahen und bedarfsgerechten Gesunderhaltung der Bevölkerung leisten kann, sofern der Versorgungsansatz wirkungsvoll etabliert wird. Dieses Anliegen möchten wir mit einem Thesenpapier unterstützen, das nun in der Version 2.0 vorliegt.

Von der Theorie in die Praxis: Wege zu Community Health Nursing in Deutschland

Wie kann eine wohnortnahe und bedarfsgerechte, aber auch barrierefrei zugängliche und zukunftssichere Gesundheitserhaltung und medizinisch-pflegerische Versorgung der Bevölkerung gestaltet werden?

Lesen Sie jetzt, wie Community Health Nursing zur Bewältigung dieser Herausforderungen beitragen könnte: Wege zu Community Health Nursing in Deutschland - Szenarien für die Etablierung eines gemeinde-basierten und gesundheitsfördernden Angebots.

Hintergrund

Während Community Health Nurses (CHNs), gemeinsam mit anderen, hochspezialisierten Pflegerollen (Stichwort: Advanced Practice Nurses), tragende Säulen der nationalen Gesundheitssysteme vieler Länder dieser Erde sind [1], ist der Entwicklungsstand einer wissenschaftlich begründeten, erweiterten Pflegepraxis in Deutschland, bis auf wenige Leuchtturmmodelle im Anfangsstadium [2]. Zumindest dann, wenn internationale Maßstäbe (z.B. Ausbildung auf Masterniveau) angelegt werden.

Diese fehlende Tradition in der professionellen (Weiter-)Entwicklung der Pflegeberufe in Deutschland, wie auch die geringe Akademisierungsquote von maximal 1,75% [3], erschwert die Implementierung von CHN erheblich, da somit nur auf wenige Erfahrungen und beinahe keine strukturellen Voraussetzungen zurückgegriffen werden kann. Um Community Health Nursing über den Status eines Prestigeprojekts hinaus zu entwickeln - und zum Wohle der Bevölkerung flächendeckend und in diesem Sinne egalitär zu etablieren, bedarf es daher gleichfalls der (Weiter-)Entwicklung des gesamten Rollenbildes und Handlungsrahmens der Pflegeberufe.

Herausforderungen in der Gesundheitspolitik

Dabei werden gemeinde-basierte und gesundheitsfördernde Pflegerollen dringend benötigt, um im Rahmen einer Gesamtstrategie zur Stärkung der medizinisch-pflegerischen Versorgung - bzw. der öffentlichen Gesundheit insgesamt einen Beitrag zur Verbesserung des Gesundheitsstatus der Bevölkerung zu leisten und das aus einer Vielzahl an Gründen.

An erster Stelle steht sicher der demografische Wandel, der beinahe alle anderen Treiber vorgibt, denn die Alterung der Gesellschaft beeinflusst wiederum das epidemiologische Geschehen, weshalb von einer Zunahme an chronischen Erkrankungen ausgegangen wird, die zudem durch die Kumulierung von Risikofaktoren über den Lebensverlauf mehrfach auftreten können (Multimorbidität) [4]. In einer aktuellen Studie berichten 58,3% der Frauen und 55,3% der Männer, an mindestens einer chronischen Erkrankung zu leiden [5].

Dies wiederum führt zu Beeinträchtigungen in der funktionalen Gesundheit, wodurch die Zahl der pflegebedürftigen Menschen steigen wird. Aktuellen Prognosen zur Folge sollen bis 2030 ca. 6 Mio. Menschen pflegebedürftig sein (ca. 1,5 Mio. mehr als heute) und diese Zahl wächst schneller als erwartet [6]. Davon sind wiederum die Familien betroffen, deren Gesundheit durch die multiplen Belastungen der (familialen) Pflege messbar schlechter ist [7]. Hinzu kommen die Folgen und Auswirkungen des Klimawandels, die nicht nur zu weiteren Gesundheitsrisiken (z.B. Hitzewellen) führen, sondern auch die Wahrscheinlichkeit für Extremwetterereignisse und andere Gefahrenlagen erhöhen.

Dem gegenüber steht ein Fachkräfteengpass in allen Gesundheitsfachberufen, der sich aufgrund der beschriebenen Steigerungen auf der Nachfrageseite noch verschärfen wird. Eine kürzlich veröffentlichte Prognose [6] geht von einem Mehrbedarf von 180.000 beruflich Pflegenden bis zum Jahr 2030 aus - allein für den Leistungsbereich der Pflegeversicherung. Dies wird auch die ehrgeizige Zielsetzung der Ausbildungsoffensive Pflege (10% Steigerung) nicht abfedern können. Kulturelle und soziale Faktoren, wie die höhere berufliche Mobilität oder die Abnahme der Pflegebereitschaft in der Familie, tragen zusätzlich dazu bei, dass alles dafür getan werden muss, damit die Pflegeberufe attraktiver werden.

COVID-19 - Lessons Learned?

Hinzu kommen die systemimmanenten Schwächen des deutschen Gesundheitswesens, die unter COVID-19 und dem berühmten „Brennglas-Effekt“ noch deutlicher wurden. Dies betrifft insbesondere die Abwesenheit eines Public Health Dienstes, wie ihn viele andere Nationalstaaten haben, in denen der ÖGD als eigenständiger Leistungserbringer fungiert [8]. In Deutschland bewegt sich die öffentliche Gesundheit irgendwo zwischen hausärztlicher Versorgung und Gesundheitsverwaltung, während die Impfzentren in der COVID-19 Pandemie von der Bundeswehr und dem Bevölkerungsschutz betrieben wurden.

Ebenso ist die Primärversorgung, die den Erstkontakt mit dem nationalen Gesundheitswesen herstellt und den Weg durch das Versorgungssystem eröffnet, in Deutschland nur schwach ausgeprägt [9] und auf die vertragsärztliche Versorgung begrenzt [10]. Für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen muss immer ein Arzt aufgesucht werden, selbst wenn es sich um Pflege oder Heil- und Hilfsmittel handelt. Hierbei entsteht ein Nadelöhr-Effekt, welcher Navigation, Koordination und Fallsteuerung, genauso den schwindenden ambulant-ärztlichen Kapazitäten überlässt, wie Gesundheitsedukation und Beratung oder zielgerichtete Verhaltens- und Verhältnisprävention. Für die Antragstellung von Sozialversicherungsleistungen müssen dagegen entsprechende Sozial- oder Pflegeberatungsstellen aufgesucht werden.

Die OECD und die WHO bewerten die Effektivität des deutschen Gesundheitswesens daher auch als durchschnittlich [11]. Als Deutsches Rotes Kreuz haben wir hierzu bereits im Rahmen des Deutschen Resilienz- und Aufbauplans (DARP) umfangreich Stellung genommen [12]. Über den NextGenerationEU Fonds, aus dem der DARP finanziert wird, werden in Österreich gerade Community Nurses etabliert [13], in Deutschland wurde dieser Weg allerdings nicht eingeschlagen.

Weitere Handlungsbedarfe ergeben sich aus regionalen Unterschieden in der Zugänglichkeit [14] sowie Phänomenen der Über-, Unter-, und Fehlversorgung [15] zwischen städtischen und ländlichen Räumen.

Gesundheitspolitische Debatte - Survival of the Fittest?

Diese Herausforderungen werden mit der Etablierung von CHN selbstverständlich auch nicht von allein verschwinden, vielmehr werden CHNs zunächst Teil dieser Welt an Problemen sein. Gleichzeitig sind wir als DRK davon überzeugt, dass CHN ein Baustein auf dem Weg zur langfristigen Bewältigung durch Gesundheitsförderung, Prävention und Gemeindeorientierung sein kann.

Ähnlich, wie bei den gleichermaßen auf die öffentliche Gesundheit bezogenen Verabredungen des KoaV, wie den Gesundheitskiosken, ist der Diskurs um die Etablierung von CHN dementsprechend von verschiedenen Perspektiven geprägt. Die damit verbundene Akzentuierung und Bewertung der Veränderungsnotwendigkeit hin zu CHN-Strukturen, stellen eine Herausforderung in der Entwicklung eines gesamtgesellschaftlich verorteten Verständnisses dar.

Dazu kommen berufsständische Begehren; während die Pflegeberufe (berechtigterweise) für mehr Kompetenzen und weitreichendere Befugnisse streiten, beharren Teile der Ärzteschaft auf dem Heilkundevorbehalt - obwohl die internationale Forschung vielversprechende Ergebnisse zur Substitution von ärztlichen Tätigkeiten zeigt [16].

Gestaltung eines zukunftsfesten Gesundheitssystems

In einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft ist dies Ausdruck und notwendiges Instrumentarium der öffentlichen Meinungs- bzw. der politischen Willensbildung, lenkt gleichzeitig aber auch von der zentralen Frage ab, um die es Angesichts der bestehenden Herausforderungen eigentlich gehen sollte:

Wie kann eine wohnortnahe und bedarfsgerechte, aber auch barrierefrei zugängliche und zukunftssichere Gesundheitserhaltung und medizinisch-pflegerische Versorgung der Bevölkerung gestaltet werden?

Den Beitrag, den CHNs zu dieser Fragestellung leisten könnten, wird in einem Thesenpapier der DRK-Wohlfahrt zur Etablierung von Community Health Nursing in Deutschland dargestellt.

Herzstück bilden die beiden, unter breiter Beteiligung unserer Verbandsgliederungen herausgearbeiteten Szenarien „Öffentliche Gesundheit in der Kommune“ und „Pflegedienst trifft MVZ“. Die zwei sich ergänzende Wege zur CHN-Etablierung aufzeigen.

Haben wir Ihr Interesse geweckt? Treten Sie mit uns in Kontakt. Wir tauschen uns gerne mit Ihnen aus!

Quellen

[1] Delamaire, M., Lafortune, G. (2010). "Nurses in Advanced Roles: A Description and Evaluation of Experiences in 12 Developed Countries", OECD Health Working Papers, No. 54, OECD Publishing, Paris. Online im Internet [05.06.2023].

[2] BT-Drucksache 19/32662: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Kai Gehring, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Zustand der Pflegewissenschaft in Deutschland vom 08.10.2021. Online im Internet [05.06.2023].

[3] Meng, M., Peters, M. Dorin, L. (2022). Erste Sondererhebung des BIBB-Pflegepanels. Ein aktueller Überblick zu berufsqualifizierenden Pflegestudiengängen. Online im Internet [05.06.2023].

[4] Robert Koch-Institut (Hrsg) (2015). Gesundheit in Deutschland. Kapitel 8. Wie gesund sind die älteren Menschen? Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gemeinsam getragen von RKI und Destatis. Online im Internet [05.06.2023].

[5] Güthlin, C.; Köhler, S; Dieckelmann, M. (2020). Chronisch krank sein in Deutschland. Zahlen, Fakten und Versorgungserfahrungen. Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Online im Internet [05.06.2023].

[6] Rothgang, H. Müller, R. (2021). Barmer Pflegereport 2021. Wirkungen der Pflegereformen und Zukunftstrends. Online im Internet [05.06.2023].

[7] Pinquart, M., & Sörensen, S. (2003). Differences between caregivers and noncaregivers in psychological health and physical health: A meta-analysis. Psychology and Aging, 18(2), 250–267. Online im Internet [05.06.2023].

[8] Augurzky, B., Busse, R., Gerlach, F., Meyer, G. (2020). Zwischenbilanz nach der ersten Welle der Corona-Krise 2020. Richtungspapier zu mittel- und langfristigen Lehren. Online im Internet [05.06.2023].

[9] World Health Organization (2015). Building primary care in a changing Europe. Regional Office for Europe. Kopenhagen. Online im Internet [05.06.2023].

[10] Freund, T.; Everett, C.; Griffiths, P.; Hudon, C.; Naccarella, L.; Laurant, M. (2015). Skillmix, roles and remuneration in the primary care workforce: Who are the healthcare professionals in the primary care teams across the world? International Journal of Nursing Studies 52 (3), S. 727–743. Online im Internet [05.06.2023].

[11] Greß, S., Maas, S., & Wasem, J., (2008). Effektivitäts-, Effizienz- und Qualitätsreserven im deutschen Gesundheitssystem (No. 154), Arbeitspapier. Online im Internet [05.06.2023].

[12] Stellungnahme des Deutschen Rotes Kreuzes e.V. zu dem Entwurf des Deutschen Aufbau- und Resilienzplans (DARP) vom 22.02.2021. Online im Internet [05.06.2023].

[13] Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (2021). Sonderrichtlinie für den österreichischen Aufbau- und Resilienzplan – Maßnahme Community Nursing. Online im Internet [05.06.2023].

[14] Bertelsmann Stiftung (2015). Faktencheck Gesundheit. Regionale Unterschiede in der Gesundheitsversorgung im Zeitvergleich. Online im Internet [05.06.2023].

[15] Friedrich Ebert Stiftung (2011). Gesundheitliche Versorgung in Stadt und Land – Ein Zukunftskonzept. Wiesbaden. Online im Internet [05.06.2023].

[16] Laurant, M., van der Biezen, M., Wijers, N., Watananirun, K., Kontopantelis, E., & van Vught, A. J. (2018). Nurses as substitutes for doctors in primary care. Cochrane Database of Systematic Reviews (7). Online im Internet [05.06.2023].

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Tätigkeits- und Aufgabenfelder von CHNs (nach WHO, 2017) I © Hener / DRK
Typologie der gemeindeorientierten Pflegerollen I © Hener / DRK