"Keine Ärztin und kein Arzt würde sagen: Mir fällt nicht ein, wo ich etwas abgeben könnte."
Christian Hener: Teile der Ärzteschaft sehen in CHN wahlweise eine Parallelstruktur – oder eine Gefährdung der medizinischen Versorgungsqualität. Was würdest Du diesen Stimmen entgegnen?
Tahnee Leyh: Erstmal frage ich mich: Wo ist die Parallelstruktur? Was sind unserer Parallelen? Und wenn es Parallelen gibt: Sind diese so negativ? Können wir da nicht einfach zusammenarbeiten? Ich glaube keine Ärztin und kein Arzt würde sagen: „Mir fällt nicht ein, wo ich etwas abgeben könnte.“ Gerade aus meiner Perspektive im ländlichen Raum. Stichwort: Landärztemangel. Auch dieses Konkurrenzdenken: Was gibt es denn zu befürchten? Was sollen wir denn wegnehmen? Statt eher zu gucken, welche Kompetenzen wir bereits haben, und welche Aufgaben wir effektiv übernehmen könnten? Es macht doch keinen Sinn, den ärztlichen Kolleginnen und Kollegen vorzuschlagen, welche Wundauflage verordnet werden soll, diese das dann machen, nur weil sie als einziger Akteur dazu befugt sind, obwohl sie die Wunde im Extremfall nicht einmal gesehen haben. Ich sehe da keinen Raum für Konfrontation. Es geht um die Gestaltung von effektiven Prozessen im Sinne unserer Zielgruppen.
Christian Hener: Wie sieht es generell mit der Überschneidung von Aufgabenbereichen zwischen Hausärztinnen und -ärzten auf der einen, bzw. Community Health Nurses auf der anderen Seite aus: Haben beide Berufsgruppen nicht grundsätzlich unterschiedliche Aufträge?
Tahnee Leyh: Ja und Nein. Was heißt unterschiedliche Aufträge? Natürlich haben Hausärztinnen und -ärzte, sowie Community Health Nurses originäre Aufgabenfelder, in klar definierten Grenzen. Wenn ich als CHN merke, dass meine Kompetenz nicht mehr ausreicht, kann ich den Fall natürlich abgeben. Das ist gerade die Kompetenz, zu sagen: „Mein Knowhow ist hier zu Ende. Hier frage ich eine Kollegin / einen Kollegen.“ Und genauso sehe ich die Zusammenarbeit mit den Hausärztinnen und -ärzten: Auf Augenhöhe, als gleichberechtigte Partner, die versuchen das Beste für die Gesundheit der Menschen herauszuholen. Jeder trägt auf seine eigene Weise dazu bei, und akzeptiert die Rolle und Fähigkeiten des anderen. Also eher zu gucken, wie können wir im Sinne der Gesunderhaltung der Bevölkerung kooperieren, anstatt miteinander zu konkurrieren. Das sehe ich auch als ein großes Alleinstellungsmerkmal von Community Health Nursing: Die gezielte Vernetzung und Koordinierung der Akteure im Gesundheitswesen, um die bestmöglichen Gesundheitsergebnisse für die Bevölkerung hervorzubringen. Meines Erachtens schwingt bei Teilen der Ärzteschaft noch eine Angst mit, dass sich die Versorgungsqualität verschlechtern könnte, wenn wir neue, nicht-ärztliche Rollenbilder einführen. Ich frage einmal bewusst provokant: „Kann sich die Versorgung überhaupt noch verschlechtern?“ Ich weiß es nicht! (lacht) Ich meine es kann nur besser werden. (schmunzelt)
Christian Hener: Auf der anderen Seite werden immer mehr gemeinde-basierte Assistenzmodelle im hausärztlichen Bereich geschaffen, wie z.B. VERAHs, NÄPAS, EVAs oder Physician Assistants. Wie stehst Du zu dieser Entwicklung? Und wie kann die Aufmerksamkeit für CHN gesteigert werden?
Tahnee Leyh: Ich sehe das kritisch! Zuerst einmal frage ich mich: „Warum entwickelt die Ärzteschaft hier immer neue Modelle?“ Das zeigt ja, dass hier scheinbar ein großer Bedarf besteht, Aufgaben abzugeben. All diesen Assistenzmodellen ist aber gemein, dass die Aufgabenübertragung auf einem Delegationsprinzip basiert. Das heißt die Ärztin / der Arzt muss den Versorgungsprozess immer noch engmaschig planen, steuern und kontrollieren. Es müssen Aufgaben identifiziert, definiert und an die Assistenzpersonen delegiert werden. Dadurch wird der Versorgungsprozess nicht wirklich verbessert, denn der Handlungsspielraum einer ärztlichen Assistenzperson ist viel zu gering, um hier effektiv wirksam zu werden. Hierzu bedarf es der selbstständigen und weisungsungebundenen Ausübung von Heilkunde durch Pflegefachpersonen, sowie die eigenverantwortliche Anwendung von pflegetherapeutischen und gesundheitswissenschaftlichen Konzepten. Dazu kommt, dass die hausärztlichen Praxen zwar im Sozialraum vorhanden sind; der komplexere Blick auf die sozialen Determinanten von Gesundheit fehlt jedoch meist. Dies ist den Kolleginnen und Kollegen nicht vorzuwerfen, denn das ist nicht ihr primärer Auftrag. Als CHNs sind wir aber speziell für diese Aufgaben qualifiziert. Dafür wurden wir ausgebildet.
"Für die Pflege sollten konkrete Qualifikationslevel definiert und mit dezidierten Kompetenzen versehen werden."
Christian Hener: International sind CHNs, je nach Einsatzfeld, zumeist auf Bachelor- oder Masterniveau qualifiziert. In Deutschland haben aktuell weniger als 2% der beruflich Pflegenden einen Bachelorabschluss. Gleichzeitig haben wir bereits heute einen hohen Bedarf nach gemeinde-basierten Angeboten aus dem CHN-Spektrum. Welche Aufgaben aus dem CHN-Spektrum könnten möglicherweise auch berufserfahrene und weitergebildete Pflegende übernehmen? Und welche Tätigkeiten setzen zwingend eine akademische Ausbildung voraus?
Tahnee Leyh: Mit dieser Frage tue ich mir sehr schwer, denn sie knüpft an die Frage davor an. Wollen wir wirklich sagen: „Es reicht eine Weiterbildung, um solch eine komplexe Rolle zu übernehmen.“ Ist das Sinn der Sache? Denn das würde ja dem widersprechen, was ich zuvor gesagt habe, dass es absolut notwendig ist, in der Pflege unterschiedliche Qualifikationsstufen zu haben, denen wiederum dezidierte Kompetenzen zugeordnet sind. Ich persönlich glaube, dass die Komplexität der Handlungsfelder im Community Health Nursing nicht in einer Weiterbildung abgebildet werden kann, sondern ein Studium voraussetzt, gerade auch um das wissenschaftliche Arbeiten zu erlernen. Community Health Nursing sollte den akademisch ausgebildeten Pflegenden vorbehalten sein, wie es auch internationaler Standard ist. Der Einsatz von weitergebildeten Pflegefachpersonen ist aus meiner Sicht wieder nur ein Lückenfüller, so wie die erwähnten ärztlichen Assistenzmodelle.
Christian Hener: Im Deutschen Qualifikationsrahmen, kurz DQR, entspricht der Masterabschluss dem Qualifikationsniveau 7. Neben dem klassischen Hochschulstudium kann dieses auch durch berufliche Fort- und Weiterbildung, hier nach dem Berufsbildungsgesetz oder der Handwerksordnung, erreicht werden. Gleichwohl das Pflegeberufegesetz das Berufsbildungsgesetz ausschließt: Könntest Du Dir solch einen Weg für das Community Health Nursing vorstellen, rein von der Idee her?
Tahnee Leyh: Warum sollte man das machen? Was ist der Vorteil davon? Ich sehe hier die Gefahr einer Doppelstruktur. Wir hätten dann sowohl beruflich weitergebildete als auch hochschulisch ausgebildete Community Health Nurses. Ich weiß nicht, ob das zielführend ist, und ob das nicht sogar der Etablierung von Community Health Nursing nach internationalem Vorbild schaden könnte. Zudem haben wir bei den gemeinde-basierten Projekten bereits einen regelrechten Wildwuchs an unterschiedlichen Rollenbildern und Aufgabenfeldern. Ich persönlich würde daher ein einheitliches Berufsbild einer Community Health Nurse bevorzugen. Gleichzeitig sehe ich das natürlich aus meiner Perspektive als studierte CHN, und natürlich kann ich auch die Kolleginnen und Kollegen verstehen, für die ein Hochschulstudium, beispielsweise aus finanziellen oder auch familiären Gründen, nicht in Frage kommt. Ich finde aber, dass hier eher die Strukturen geschaffen werden sollten, um die hochschulischen Bildungswege in der Pflege zu ermöglichen.
"Es ist wichtig sich seiner eigenen Rolle bewusst zu sein, sich erlauben zu sagen: Das kann ich!"
Christian Hener: Durch Deine Vorreiterinnenrolle sehen sicher viele Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis zu Dir auf. Was würdest Du denjenigen raten, die vor einer ähnlichen Entscheidung stehen? Was muss man dazu mitbringen?
Tahnee Leyh: Ich würde raten, einfach loszulaufen! Aber: Mit viel Selbstbewusstsein. Es ist wichtig sich seiner eigenen Rolle bewusst zu sein, sich erlauben zu sagen: „Das kann ich! Ich mache natürlich Fehler, aber ich bin eine Expertin in meinem Beruf!“ Sich nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen, und stattdessen eine selbstbewusste Haltung über die eigene berufliche Rolle zu entwickeln. Wenn man sagt: „Das bin ich, das kann ich, das mache ich!“ Dann erkennen das alle, denn alle verstehen ja, dass da Bedarfe sind. Gleichzeitig können wir als Profession nicht darauf warten, bis jemand nach uns ruft. Das wird nicht passieren. Deswegen: Einfach losstarten, und überlegen: „Was kann ich zum Gelingen von Community Health Nursing beitragen?“ Und das dann auch umsetzen. Natürlich wird das nicht immer hundertprozentig so funktionieren, wie man sich das vorstellt. Und es ist total viel sich selbst erklären, gerade in meiner Arbeit; Klinken putzen, sich vorstellen, Gesicht zeigen. Aber auch hören, wer braucht was? Wie muss ich Akteure ansprechen, um sie für mich zu gewinnen? Wie können wir zusammenarbeiten? Kann ich da einen Schritt draufzugehen? Das ist, glaube ich, der Schlüssel zum Glück für Kolleginnen und Kollegen, die mit Community Health Nursing anfangen wollen. Ein Ohr haben für alle, und das zu dem Allgemeinwohl in Bezug zu setzen.
Christian Hener: Würdest Du sagen, dass sich das für Dich ausgezahlt hat? Lohnt sich „der lange Marsch durch die Institutionen“?
Tahnee Leyh: Das lohnt sich auf jeden Fall! Wie habe ich angefangen? Ich hatte mich dazu entschieden Pflege zu studieren. Da kriegt man von Anfang an auf den Deckel: Von der eigenen Berufsgruppe, und von allen anderen, sogar von den Patientinnen und Patienten, die fragen: „Warum studieren Sie das überhaupt?“ Dadurch entwickelt man irgendwann eine Art Resilienz gegenüber dem eigenen beruflichen Weg, aber auch die Fähigkeit noch einmal besser begründen zu können, was der Mehrwert der eigenen Rolle ist. Allein dafür lohnt es sich bereits diesen Weg zu gehen! Aber auch die Bestätigung von den Akteuren zu bekommen, mit denen man zusammenarbeitet: „Großartig, dass es funktioniert, wenn man es mal macht!“ Und auch zu hören: „Da muss man für am Ball bleiben!“ Oder: „Verrückt, dass Du so viel Geduld hast!“ Die sich aber letztlich auszahlt, und ich dann schon sagen kann: „Guck, hat doch gut funktioniert, wie wir jetzt hier zusammengearbeitet haben!“
Christian Hener: Zum Abschluss möchte ich Dir noch eine Nerd-Frage mit Rotkreuz-Bezug stellen: Was ist Dein liebster Rotkreuz Grundsatz, und warum?
Tahnee Leyh: Das passt zu allem, was ich bisher gesagt habe: Der Grundsatz der Neutralität. Neutralität ist der Grundsatz, den ich am meisten mag, und da sind wir wieder da, wo wir angefangen haben: Gesundheit sollte für alle zugänglich sein. Community Health Nurses sollten für alle da sein können. Deswegen passt das glaube ich gut zu diesem Rotkreuz Grundsatz.
Zum ersten Teil der Interviewreihe: "Wie alles begann" geht es hier entlang. Zum zweiten Teil der Interviewreihe: “Woran das Gesundheitssystem krankt” geht es hier entlang.
Tahnee Leyh ist Gemeindegesundheitspflegerin für die Stadt Luckau im DRK-Kreisverband Fläming-Spreewald. Sie ist Gesundheits- und Krankenpflegerin und M.Sc. in Community Health Nursing/ Erweiterte Pflegepraxis/ ANP.
Christian Hener ist Referent für Bildung und Qualitätsentwicklung in der Pflege im DRK-Generalsekretariat. Er ist Gesundheits- und Krankenpfleger und M.Sc. in Gesundheits- und Pflegewissenschaften.