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Aufgaben von akademisch qualifizierten Pflegenden (AQPs) am Beispiel Gesundheitskiosk

In den meisten Industrienationen wird die Pflegefachausbildung auf akademischem Niveau durchgeführt. Examinierte Pflegende, international als Registered Nurses (RNs) bezeichnet, verfügen in der Regel über einen Bachelorabschluss, an den sich ein spezialisierter Masterstudiengang anschließen kann. Mit dem Pflegeberufereformgesetz wurde auch hierzulande ein primärqualifizierendes Pflegestudium geschaffen, das die berufliche Ausbildung in der Pflege ergänzt. Im Vergleich dazu, erhalten die Pflegestudierenden allerdings keine Ausbildungsvergütung, sodass bislang viele Studienplätze frei blieben. Mit dem Pflegestudiumstärkungsgesetz soll dies nun geändert werden. Gut so sagen wir, denn AQPs können einen wertvollen Beitrag zur Gesundheitsversorgung leisten.

Das Pflegestudium vom Kopf auf die Füße stellen

Mit dem Pflegestudiumstärkungsgesetz soll das primärqualifizierende Pflegestudium in ein duales Studium überführt werden, was wir als Deutsches Rotes Kreuz in der Ausbildungsoffensive Pflege empfohlen haben, und daher sehr begrüßen.

Denn faktisch handelt es sich bei dem Pflegestudium schon jetzt um ein dual angelegtes Studium, nur mit dem Nachteil der fehlenden Ausbildungsvergütung. Dies hat in der Folge dazu geführt, dass sich die an einem Pflegestudium interessierten Personen eher für eine berufliche Pflegeausbildung entschieden haben, sodass wertvolle Ausbildungskapazitäten in den Hochschulen ungenutzt blieben. Eine detaillierte Bewertung des vorliegenden Gesetzesentwurfs kann unserer Stellungnahme [1] entnommen werden.

Akademisch qualifizierte Pflegende: Was bringen sie?

Doch warum sollten wir uns als Verband in Zeiten des Pflegenotstandes auch noch mit der Ausbildung von AQPs beschäftigen? Von einem deutlich attraktiveren dualen Pflegestudium versprechen wir uns die Ansprache von Zielgruppen, die durch die berufliche Pflegeausbildung bislang nicht erreicht werden konnten. Infolgedessen, so die Hoffnung, können insgesamt mehr Menschen für eine Tätigkeit in der praktischen Pflege gewonnen werden. Die hochschulische Pflegeausbildung kann daher auch als ein Baustein für eine umfassende Fachpersonenstrategie in allen Versorgungsbereichen der Pflege angesehen werden.

Häufig werde ich gefragt, wo denn genau der Mehrwert der AQPs liegt, und wie man sie einsetzen könnte. Mindestens genauso häufig bekomme ich allerdings auch die Frage gestellt, welchen Beitrag die Gesundheitskioske [2] für die Primärversorgung leisten können. Dies brachte mich auf die Idee beide Fragestellungen miteinander zu verbinden und einmal ganz plastisch in Form eines Fallbeispiels darzustellen. An dieser Stelle herzlichen Dank an meine Kollegin Andrea Uhlmann (Badisches Rotes Kreuz), die mich hierbei unterstützte.

Vereinfacht gesagt, bezieht sich das Aufgabenfeld von AQPs auf die Pflege von Menschen in hochkomplexen Versorgungssituationen, die Kompetenzen in evidenzbasierter Entscheidungsfindung voraussetzen [3]. Eine Vielzahl an Studien weisen auf den Nutzen von AQPs hin. Die bekannteste ist sicher die von Linda Aiken und Kollegen [4], die im Rahmen des Projekts RN4CAST durchgeführt wurde. Demnach haben Patienten in Krankenhäusern mit 60% bachelorqualifizierten Pflegenden und einer Nurse-to-Patient Ratio von 1:6, ein 30 % geringeres Mortalitätsrisiko als in Krankenhäusern mit 30% bachelorqualifizierten Pflegenden und einer Nurse-to-Patient-Ratio von 1:8.

Pflegerische Primärversorgung: Was ist das?

Unter pflegerischer Primärversorgung verstehen wir Angebote der primären Gesundheitsversorgung, die von Pflegenden (durch-)geführt werden.

Die Primärversorgung ist der Erstkontakt mit dem nationalen Gesundheitssystem und eröffnet den Weg durch das Versorgungssystem des Gesundheitswesens. Entsprechende Angebote zeichnen sich durch Lebensweltbezug, wohnortnähe und einen barrierefreien Zugang aus [4]. In Deutschland ist die Primärversorgung nur schwach ausgeprägt [4] und monodisziplinär auf die Medizin beschränkt [5], bei einem insgesamt mäßig effektivem Gesundheitssystem [6].

Die geplante Einführung von Level-1-Kliniken, Primärversorgungszentren und Gesundheitskiosken könnte diese verkrustete Lage nachhaltig aufbrechen. Ebenso, wie die Neuordnung der Pflege- und Gesundheitsfachberufe (Stichwort: Direct Access, sektorale Heilkundekompetenzen usw.) [7, 8, 9].

Ferner möchte ich gerne darauf hinweisen, dass wir gerade im Rahmen, der durch die Ausbildungsoffensive Pflege gegründeten AG "Tätigkeitsprofile von akademisch qualifizierten Pflegenden" an konkreten Empfehlungen für die Eingliederung von AQPs in allen pflegerischen Versorgungsbereichen mitarbeiten, also auch für die stationäre Langzeit- und ambulante Pflege.

AQPs in der pflegerischen Primärversorgung am Beispiel Gesundheitskiosk

Bei der 64-jährigen Petra Schmidt wurde vor vier Jahren ein Diabetes mellitus Typ 2 diagnostiziert, der zunächst mit oralen Antidiabetika behandelt wurde, im Verlauf aber auf eine Insulintherapie umgestellt werden musste. Von ihrem Hausarzt bekam sie zwar eine kurze Anleitung zur Handhabung des Insulinpens, und zur Durchführung von Blutzuckermessungen - sowie eine Information zur Berechnung der Broteinheiten und das entsprechende Injektionsschema mit, im Alltag fühlt sie sich jedoch damit überfordert.

"Frau Schmidt möchte den Diabetes besser verstehen und in den Griff kriegen (...)"

Frau Schmidt ist sehr an ihrer Selbstständigkeit gelegen und hat sich vorgenommen ihre Erkrankung besser zu verstehen und den Umgang damit zu erlernen. Allerdings ist der nächste Facharzt sehr weit entfernt und auch sonst gibt es nicht viele Angebote in ihrer Region. In der Zeitung hat sie von einem Gesundheitskiosk gehört, das kürzlich in ihrer Nähe eröffnet wurde. Hier würde es spezielle Angebote für Menschen mit Diabetes geben, die bei der Bewältigung der Krankheit im Alltag unterstützen könnten.

Neugierig ruft Frau Schmidt den Gesundheitskiosk an. Als ihr dort mitgeteilt wurde, dass sie keinen Termin braucht und einfach vorbeikommen kann, ist sie überrascht, denn so etwas hat sie bislang noch nicht erlebt. Im Gesundheitskiosk angekommen, füllt Frau Schmidt zuerst ein Formular aus, das neben ihren persönlichen Daten auch einige Fragen zu ihrer Gesundheit enthält. Nach einer kurzen Wartezeit ist sie an der Reihe und wird von der zuständigen Pflegefachperson aufgerufen.

"(...) nach Berufserfahrung im Krankenhaus und der ambulanten Pflege ist Herr Maier als AQP im Gesundheitskiosk tätig"

Martin Maier ist akademisch ausgebildeter Pflegefachmann und hat sich nach einiger Berufserfahrung im Krankenhaus und der ambulanten Pflege gleich auf die ausgeschriebene Stelle in dem Gesundheitskiosk beworben, da er gerne selbstständiger und eigenverantwortlicher arbeiten wollte. Nach der Begrüßung führte er Frau Schmidt in sein Büro. Dort angekommen sichtete Hr. Maier zunächst das durch Frau Schmidt ausgefüllte Formular, und ermittelt dann in einem Leitfaden gestützten Interview ihre primären Bedürfnisse und Bedarfe.

Auf dieser Grundlage erarbeitete der studierte Pflegefachmann Hr. Maier, gemeinsam mit Frau Schmidt, individuelle Zielsetzungen. Das primäre Ziel von Frau Schmidt lautet: „Ich möchte das Krankheitsbild des Diabetes verstehen und den sicheren Umgang mit der Insulintherapie erlernen“. Um ein noch umfassenderes Bild von Frau Schmidt zu bekommen, führte Hr. Maier noch einige Screenings (Hautzustand und Durchblutung, insbesondere der Füße und Unterschenkel), Assessments (Barthel Index, SF-36, General Self-efficacy Scale) und Laboruntersuchungen (Blutzucker, HbA1C, Urin) durch.

"Ein Versorgungsplan stärkt Frau Schmidts Gesundheitskompetenz und beugt Komplikationen sowie Folgeerscheinungen des Diabetes vor (...)"

Den darauf aufbauenden und mit der Klientin abgestimmten Versorgungsplan bekam Frau Schmidt direkt in die Smartphone-App des Gesundheitskiosks übertragen, bei deren Installation sie durch die Rezeption unterstützt wurde. Frau Schmidt geht nun einmal die Woche zur Diabetes Schulung ins Gesundheitskiosk. Sie wird im Umgang mit dem Blutzuckermessgerät und dem Insulinpen geschult, die weiteren angebotenen Themen sind sehr abwechslungsreich und beziehen sich neben dem Diabetes Selbstmanagement, auch auf Fragen der Lebensführung und Ernährung. Dazu werden gemeinsame Kochabende veranstaltet. Nach nur einem Monat fühlt sich Frau Schmidt in Bezug auf die Insulintherapie schon viel sicherer und hat zudem neue Bekanntschaften geschlossen.

Darüber hinaus wurde Frau Schmidt von Hr. Maier für das Disease Management Programm Diabetes angemeldet. Die Termine für die Verlaufskontrollen bei den jeweiligen Fachärzten (Diabetologe, Kardiologe, Augenarzt) bekommt Frau Schmidt zuverlässig in die Smartphone App des Gesundheitskiosk gesendet. Einmal im Quartal fragt Hr. Maier bei Frau Schmidt telefonisch nach, wie es ihr geht, und passt mit ihr gemeinsam den Versorgungsplan an die veränderten Bedürfnisse und Bedarfe an. Zu den Diabetes Schulungen geht Frau Schmidt nun nicht mehr, aber die Kochkurse lässt sie sich nicht entgehen.

Autoren

Andrea Uhlmann (Badisches Rotes Kreuz)

Christian Hener (Deutsches Rotes Kreuz, Generalsekretariat)

Quellenangaben

[1] Stellungnahme des Deutschen Roten Kreuzes und des Verbandes der Schwesternschaften vom DRK zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der hochschulischen Pflegeausbildung, zu Erleichterungen bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse in der Pflege und zur Änderung weiterer Vorschriften (Pflegestudiumstärkungsgesetz – PflStudStG) vom 04. Mai 2023. Online im Internet.

[2] Hener, C. (2022). Gesundheitskiosk. Baustein einer niedrigschwelligen und gemeinde-basierten Primärversorgung. Faktenpapier der DRK-Wohlfahrt. Deutsches Rotes Kreuz. Berlin. Online im Internet.

[3] Aiken LH, Sloane DM, Bruyneel L, Van den Heede K, Griffiths P, Busse R, Diomidous M, Kinnunen J, Kózka M, Lesaffre E, McHugh MD, Moreno-Casbas MT, Rafferty AM, Schwendimann R, Scott PA, Tishelman C, van Achterberg T, Sermeus W; RN4CAST consortium. Nurse staffing and education and hospital mortality in nine European countries: a retrospective observational study. Lancet. 2014 May 24;383(9931):1824-30. doi: 10.1016/S0140-6736(13)62631-8. Epub 2014 Feb 26. PMID: 24581683; PMCID: PMC4035380. Online im Internet.

[4] Empfehlungen zu Aufgabenprofilen akademisch qualifizierter Pflegefachpersonen. Arbeitsgruppe der Ausbildungsoffensive Pflege (2019 - 2023). Version 5 - Stand: 02.05.2023. Unveröffentliches Manuskript.

[5] World Health Organization (2015): Building primary care in a changing Europe. Regional Office for Europe. Kopenhagen. Online im Internet.

[6] Freund, T.; Everett, C.; Griffiths, P.; Hudon, C.; Naccarella, L.; Laurant, M. (2015): Skillmix, roles and remuneration in the primary care workforce: Who are the healthcare professionals in the primary care team across the world? International Journal of Nursing Studies 52 (3), S. 727–743. Online im Internet.

[7] Greß, S., Maas, S., & Wasem, J., (2008): Effektivitäts-, Effizienz- und Qualitätsreserven im deutschen Gesundheitssystem (No. 154), Arbeitspapier.

[8] Koalitionsvertrag 2021— 2025. Zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Bündnis 90 / Die Grünen und den Freien Demokraten (FDP). Online im Internet.

[9] Eckpunkte der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Gesamtkonzept Gesundheitsfachberufe“ vom 04. März 2020. Online im Internet.

Disclaimer

Das Fallbeispiel wurde im Rahmen der AG Tätigkeitsprofile für hochschulisch qualifizierte Pflegende erarbeitet und erscheint mit freundlicher Genehmigung der Redaktionsgruppe.