Christian Hener: Community Health Nursing ist aktuell kein regulärer Bestandteil des deutschen Gesundheitssystems. Pflegefachpersonen, die sich in diese Richtung entwickeln möchten, haben mit vielfältigen Herausforderungen zu kämpfen. Obwohl seitens der Fachwelt vielfältige Bedarfe und Betätigungsfelder formuliert werden, fehlt in der öffentlichen Debatte ein Public Health basiertes Verständnis über den Mehrwert von CHN. Wie würdest Du den Nutzen Deiner Arbeit beschreiben? Und hast Du ein konkretes Beispiel?
Tahnee Leyh: Wenn wir das bestehende System betrachten, so wie es jetzt ist, fällt auf, dass die Akteure im Gesundheitswesen nur bedingt miteinander arbeiten und sprechen. Hier fehlt der Zielgruppenfokus, also die Personenorientierung, wie wir sagen, das Ausrichten des Gesundheitssystems an den Bedarfen der Menschen vor Ort. Häufig eröffnet sich der Zugang zum Gesundheitswesen erst dann, wenn bereits eine Beeinträchtigung vorhanden ist, anstatt schon vorher danach zu schauen, wie erhalte ich die Menschen gesund? Und auf der anderen Seite, wenn schon eine Beeinträchtigung besteht, den Menschen, die Familie und die Gemeinde als System zu sehen, und die Betroffenen an die Hand zu nehmen, dadurch zu lotsen, und die verschiedenen Ebenen miteinander zu verbinden. Das sehe ich als den Mehrwert dieser Rolle an, das ist auch das, was mir die Klienten zurückmelden. Natürlich gehen sie zum Arzt, und natürlich bekommen sie einen Pflegedienst verordnet. Aber wenn die entsprechenden Aufgabenfelder abgearbeitet wurden, sind die Betroffenen wieder auf sich allein gestellt. In vielen Fällen wird aber die tatsächliche Ursache hinter dem Gesundheitsproblem nicht bekämpft, und das Spiel geht wieder von vorne los. Da sehe ich Community Health Nursing als riesige Chance, um wirklich nachhaltige Maßnahmen zur Gesunderhaltung der Menschen zu implementieren, indem tatsächlich geschaut wird, was die Ursachen für das Entstehen der Beeinträchtigung waren, und ob diese vollumfänglich behoben werden konnten. Das kann meiner Ansicht nach nur Community Health Nursing leisten.
„Wie halte ich mich gesund? Was bedeutet Gesundheit eigentlich? Und was tue ich selbst dafür?“
Christian Hener: Community Health Nursing setzt vor allem bei der Förderung von Ressourcen, von Gesundheit an, und will die Verhältnis- und Verhaltensprävention stärken. Hierbei ist ein systemischer Ansatz zentral, den Du gerade auch betont hast. Fehlt dieser Public Health bezogene Blick hierzulande manchmal?
Tahnee Leyh: Auf jeden Fall! Das gleiche gilt aber auch für die individuelle Perspektive: „Wie halte ich mich gesund? Was bedeutet Gesundheit eigentlich? Und was tue ich selbst dafür?“ Dieses fehlende Bewusstsein ist meines Erachtens historisch gewachsen. Wir wurden sozialisiert, dass uns der „Halbgott in Weiß“ wieder „repariert“, wenn etwas „kaputt gegangen“ ist. Aber was tun wir selbst dafür, dass es gar nicht erst so weit kommt? Gesundheitskompetenz ist ein riesiges Thema. Wie können wir ein Bewusstsein für Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung schaffen bzw. ausbauen? Und das aber nicht übergriffig, oder moralisierend, sondern wertfrei und ressourcenorientiert. Wirklich gemeinsam zu schauen, was ist schon da? Und wo soll es hingehen? Denn jeder kennt seine eigenen „Baustellen“ am besten.
Christian Hener: Darüber hinaus fehlen aber auch entsprechende Bildungsangebote, Befugnisse, Kompetenzen, sowie konkrete Stellenausschreibungen für Community Health Nurses in Deutschland – von den mangelnden Finanzierungsstrukturen gar nicht erst zu reden. Was würdest Du Dir grundsätzlich wünschen, um die Karriereperspektiven von beruflich Pflegenden zu stärken? Und was für Deine persönliche Situation in Deiner Rolle als Gemeindegesundheitspflegerin?
Tahnee Leyh: Ganz generell würde ich mir wünschen, dass Community Health Nursing seinen Platz im Gesundheitswesen findet, und regelhaft finanziert wird. Ich bin mir aber unsicher, ob dies durch die Sozialversicherung erfolgen sollte, denn internationale Beispiele zeigen, dass es auch anders geht. Eine Finanzierung durch die GKV könnte dann auch wieder zur Folge haben, sich einem kleinteiligen Leistungsrecht unterzuordnen.
"Es geht um Gesundheitsförderung im Lebensraum, wie der Name schon sagt, Community - Health - Nursing"
Christian Hener: Würdest Du Community Health Nursing dann eher in öffentlichen Strukturen verorten? Beispielsweise indem die Anstellung direkt bei der Kommune bzw. dem Öffentlichen Gesundheitsdienst erfolgt?
Tahnee Leyh: Es geht um die Gesundheitsförderung im Lebensraum, und wie der Name schon sagt, findet Community Health Nursing eben genau dort statt. Warum soll es dann nicht auch von der Kommune bzw. den staatlichen Strukturen getragen werden? Gesundheit ist etwas, das jedem zusteht, und für jeden zugänglich sein sollte. Stichwort: Gesundheitliche Chancengleichheit.
Christian Hener: Also ganz getreu der Erklärung von Alma Ata und der Ottawa Charta: Gesundheit ist ein Menschenrecht, auf das alle einen Anspruch haben?
Tahnee Leyh: Ja, ganz genau! Und zwar unabhängig von dem Versicherungsstatus oder der Kassenzugehörigkeit: Ohne gesonderte Beitragszahlungen. Alle sollten das gleiche Recht darauf haben.
Christian Hener: Gesundheit ist universell, und Pflege ist auch universell?
Tahnee Leyh: Ganz genau, gutgesagt! Aber noch einmal zurück zu den Bildungsangeboten. Ich glaube, dass die entsprechenden Studiengänge auf Masterniveau fehlen, liegt auch an der Bereitschaft unserer Berufsgruppe: Sich erlauben, sich weiterzuentwickeln und auch anzuerkennen, dass sich die Welt weiterdreht, sich vieles verändert und Zusammenhänge komplexer werden. Vor dem Hintergrund der Demografie und den jetzt schon bestehenden Versorgungsengpässen, auch im ärztlichen Bereich, werden wir fast keine andere Wahl haben, als uns daran anzupassen. Wie oft hört man als akademisch ausgebildete Pflegefachperson auch aus den Reihen der eigenen Berufsgruppe: „Warum muss das sein? Du kehrst der Pflegepraxis den Rücken!“ Das ist aus meiner Sicht Quatsch, bei der Akademisierung geht es ja gerade darum die Pflegepraxis aus ihr heraus zu verbessern. Hier braucht es auch eine andere Einstellung und Akzeptanz innerhalb der Pflegeprofession, ohne dabei jemanden zu degradieren, selbstverständlich. Ich glaube, wir könnten alle gut miteinander arbeiten.
"Es ist der Lebensraum, indem Gesundheit entsteht. Über die Schule könnten Kinder noch einmal ganz anders erreicht werden."
Christian Hener: Als klassische Einsatzfelder von Community Health Nurses gelten etwa die Primärversorgung oder der Öffentliche Gesundheitsdienst. Die Grundsteine für ein gesundes Leben werden bereits im Kindesalter gelegt. Stichwort: Lebensverlaufsansatz. Wie denkst Du über School Health Nursing, dass ähnlich wie Community Health Nursing im internationalen Kontext verbreitet ist, aber hierzulande nicht wirklich in die Umsetzung kommt?
Tahnee Leyh: Natürlich wäre das auch ein Modell für Deutschland, denn wie unterscheiden sich hiesige Kinder, von Kindern anderswo? Ich weiß auch gar nicht, ob dies so stark voneinander getrennt werden sollte. Für mich ist School Health Nursing ein Teil von Community Health Nursing, weil es ein Lebensraum ist, indem Gesundheit entsteht. Über die Lebenswelt Schule könnten Schülerinnen und Schüler noch einmal ganz anders abgeholt und erreicht werden.
Christian Hener: Wäre es demnach denkbar, dass Community Health Nurses auch an Schulen tätig sind, oder vielleicht sogar daran angedockt werden?
Tahnee Leyh: Aus meiner Sicht sind Kinder- und Jugendliche noch einmal gesondert, als spezielle Zielgruppen zu betrachten, was eine dementsprechende Expertise in diesem Feld voraussetzt. Ansonsten würde ich hier aber Community Health Nursing schon als Überschrift sehen.
Zum ersten Teil der Interviewreihe: "Wie alles begann" geht es hier entlang.
Tahnee Leyh ist Gemeindegesundheitspflegerin für die Stadt Luckau im DRK-Kreisverband Fläming-Spreewald. Sie ist Gesundheits- und Krankenpflegerin und M.Sc. in Community Health Nursing/ Erweiterte Pflegepraxis/ ANP.
Christian Hener ist Referent für Bildung und Qualitätsentwicklung in der Pflege im DRK-Generalsekretariat. Er ist Gesundheits- und Krankenpfleger und M.Sc. in Gesundheits- und Pflegewissenschaften.