Nach der Begrüßung des Publikums sowie der Podiumsteilnehmenden durch das Moderatorenteam, Dr. Maike Grube (Diakonie Deutschland) und Christian Hener (DRK-Generalsekretariat), erfolgte zunächst eine kurze Einführung in die Zielsetzung und den Ablauf der Veranstaltung. Es solle erörtert werden, so Maike Grube, Referentin für gesundheitliche Versorgung bei der Diakonie Deutschland, wie Community Health Nursing zukünftig zu einer besseren Primärversorgung beitragen kann, um insbesondere die Gruppen besser erreichen zu können, die aktuell unter- oder fehlversorgt sind. Dies betreffe beispielsweise Menschen mit chronischen und komplexen Mehrfacherkrankungen oder Personen in sozialen Problemlagen.
Michael Ewers brachte dies später treffend auf den Punkt, indem er Lord Nigel Crisp, den ehemaligen NHS-Vorsitzenden zitierte [1]:
„Hospitals are for repairs, health is made at home“
Im Anschluss an eine interaktive Befragung des Publikums, bei der die Teilnehmenden angeben konnten, in welchem Versorgungsbereich sie tätig sind (Bild 1) und was sie am heutigen Tag interessiert (Bild 2), beschrieb Christian Hener die Merkmale von Community Health Nursing (CHN).
Dem Referenten für Pflegeberufe des DRK-Generalsekretariats zufolge sind Community Health Nurses (CHNs) feste Bestandteile der Gesundheitssysteme vieler Länder. Die Weltgesundheitsorganisation definiere CHN als spezielles Feld des Heilberufs Pflege, das Kompetenzen aus Pflege(wissenschaft), Public Health und Sozialarbeit kombiniere, um als Bestandteil der Daseinsfürsorge Gesundheit zu fördern und Krankheiten zu verhindern [2].
Die Alterung der Gesellschaft, die Zunahme an chronischen Erkrankungen, die Zergliederung des Versorgungssystems, die Knappheit an Fachpersonal: Gründe, warum CHN auch hierzulande etabliert werden sollte gebe es reichlich. Deshalb wäre in dem Koalitionsvertrag der Regierungsparteien, so Hener weiter, auch verabredet worden, dass „Professionelle Pflege […] durch heilkundliche Tätigkeiten“ ergänzt und „u.a. das neue Berufsbild der Community Health Nurse“ geschaffen werden soll [3].
Nach diesem Intro stellte das Moderatorenteam abwechselnd die Podiumsteilnehmenden vor, die sich engagiert den vielen interessierten Fragen des Moderationsduos, und gerade auch des Publikums, das sich über die Frage & Antwort-Funktion an dem Gespräch beteiligen konnte, widmeten:
Die möglichen Aufgaben- und Tätigkeitsfelder von CHNs, diese Auffassung teilen alle Podiumsteilnehmenden, seien breit gefächert und reichten von der individuellen Unterstützung über die Arbeit mit Familien und sozialen Gruppen bis hin zur Arbeit in Sozialräumen. Dies beinhalte einerseits das Informieren, Beraten und Anleiten sowie das Versorgen, insbesondere von Menschen mit chronischen und Mehrfacherkrankungen, darunter zahlreiche ältere und hochaltrige Personen. Andererseits gehöre aber auch die Netzwerkarbeit und Angebotssteuerung vor Ort oder das Initiieren von lokalen Gesundheitsförderungs- und Präventionsprogrammen zum CHN.
Diese Vielfalt an Aufgaben und Tätigkeiten finde sich auch in der Ausgestaltung der CHN-Rollen in anderen Gesundheitssystemen wider, so Michael Ewers. International gebe es keine einheitliches Verständnis, sondern viele unterschiedliche Interpretationen und Umsetzungspraktiken von Community Health Nursing.
Der Mehrwert der CHN gegenüber anderen Rollenbildern, wie Verahs, NäPas oder Physician Assistants, die ebenfalls zur Stärkung der Primärversorgung diskutiert werden, bestehe Bernadette Klapper zufolge vor allem darin, dass letztere als Assistenzberufe angelegt sind, die die ärztliche Tätigkeit flankieren und der ärztlichen Versorgungslogik folgten, CHNs würden dagegen einer originär pflegerischen Perspektive folgen, was eine bedeutsame Ergänzung der bisherigen Versorgungsstrukturen ergebe. Wichtig sei zudem, dass CHNs selbständig und eigenverantwortlich handeln. Auch die Übertragung von heilkundlichen Tätigkeiten sei hierfür erforderlich.
Michael Ewers ergänzt, dass der Heilberuf Pflege noch deutlicher als ein solcher ernstgenommen und in seinen Kompetenzen und Befugnissen gestärkt werden müsse, damit zukünftig nicht mehr über jede Verordnung und jedes Medikament gestritten werden müsste. In vielen anderen Ländern traue man der Pflege deutlich mehr an Kompetenzen zu als in Deutschland, hier gebe es dringenden Nachholbedarf.
Während in der Primärversorgung eher klinische Fähigkeiten gefordert seien, führt Gottfried Roller aus, können CHNs im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) eine stärker steuernde und koordinierende Funktion haben. CHNs können beispielsweise regionale Versorgungsbedarfe erheben, strukturelle Gesundheitsförderungsmaßnahmen planen, Entwicklungen im Gesundheitsbereich frühzeitig erkennen und dementsprechende Präventionsmaßnahmen auf den Weg bringen. Hierzu benötige es aber auch veränderte Stellenprofile im ÖGD insgesamt.
Alice Edtmayer ergänzt, dass bei der Einführung der Community Nurses (CNs) in Österreich insbesondere auf die Vermeidung von Doppelstrukturen geachtet worden wäre, weshalb die CNs dort allein in der Gesundheitsfürsorge, nicht aber in der Gesundheitsversorgung tätig seien, beispielsweise im Rahmen der präventiven Hausbesuche für ältere Menschen.
Auf die Frage, warum diese Aufgaben von Pflegenden und nicht durch andere Berufsgruppen wie zum Beispiel Sozialarbeitende durchgeführt werden sollten, antwortete Michael Ewers:
„Pflegende wissen vielleicht nicht so viel über Medizin wie ein Arzt, nicht so viel über Psychologie wie ein Psychologe, nicht so viel über Medikamente wie ein Apotheker und nicht so viel über Rehabilitation wie die Therapieberufe. Sie wissen aber von allem mehr als genug, um die Gesundheit der Bevölkerung effektiv erhalten und fördern zu können.“
Aktuell werden unterschiedliche Strukturen diskutiert, an die CHNs sinnvoll angedockt werden könnten: multiprofessionelle Gesundheitszentren, Gesundheitskioske, hausärztliche Praxen oder MVZs, der ÖGD, Schulen, Stadtteilzentren, oder aber auch Krankenhäuser, stationäre Pflegeeinrichtungen und nicht zuletzt auch ambulante Pflegedienste. Bernadette Klapper sieht CHNs insbesondere in multiprofessionellen Teams tätig werden, die eine koordinierte und umfassende Versorgung anbieten. Die sei im internationalen Kontext bereits eine langjährige gute Praxis, wo CHNs vor allem in Primärversorgungszentren tätig seien.
Dies bestätigt auch Jens Stüwe, der als studierte Pflegefachperson im Stadtteilgesundheitszentrum des Gesundheitskollektiv Berlin e.V. tätig ist und dort gewissermaßen Pionierarbeit leistet. Darüber hinaus seien für die Arbeit in multiprofessionellen Teams insbesondere wichtig, dass regelmäßige Austauschformate, wie gemeinsame Fallkonferenzen finanziert und ermöglicht werden, aber auch Dokumentationssysteme, die für alle Berufsgruppen im Team zugänglich und nutzbar sind.
Für Gottfried Roller braucht es vor allem den politischen Willen. Die Umsetzung von CHN müsse von den Entscheidungstragenden gewollt sein. Dies erfordere zunächst auch ein Umdenken und eine neue Kultur der Gesundheitsplanung, in der vor allem die Primär- und Langzeitversorgung gestärkt werde. In Reutlingen sei dies bereits im Jahr 2010 durch die Einführung der sogenannten „Kommunalen Gesundheitskonferenz“ gelungen [4]. Eine Erfolgsgeschichte, die in Baden-Württemberg mittlerweile landesweit ausgerollt wurde.
Neben dem ÖGD, so Michael Ewers, könnten CHNs auch in der Lebenswelt Schule eingesetzt werden, wie es das SPLASH-Projekt der Berliner Charité zur Schulgesundheitspflege gezeigt habe [5, 6]. Noch könnten sich diese Ideen aber hierzulande nicht durchsetzen. Problematisch wäre zudem, dass wir in Deutschland erst jetzt ernsthaft über die CHN-Etablierung nachdenken, während andere Länder längst in der Umsetzung wären. In Österreich beispielsweise sei die Etablierung der CNs sehr schnell angegangen worden, berichtet Alice Edtmayer. Rückblickend wäre es besser gewesen, den Aufbau von Primärversorgungsstrukturen etwas länger vorzubereiten und ausreichend Zeit hierfür einzuplanen.
Bislang gibt es in Deutschland nur drei CHN-Masterstudiengänge und damit entsprechend wenige Absolvent:innen, die dem internationalen Qualifikationsniveau von CHNs gerecht werden. Zwei der drei Hochschulen sind zudem private Hochschulen, die Studiengebühren erheben. Dazu kommen unterschiedliche Ausrichtungen der Studiengänge – eher auf sozialräumliche Arbeit oder klinische Tätigkeit fokussiert. Bernadette Klapper plädiert dafür, dennoch daran festzuhalten, dass Community Health Nursing eine Ausbildung auf Masterniveau erfordere. Dies sei auch international üblich und werde von den Kompetenzanforderungen her benötigt.
Alice Edtmayer ergänzt, dass für die Tätigkeit als Community Nurse (CN) in Österreich aktuell kein Masterabschluss erforderlich sei, die ersten Praxiserfahrungen aber gezeigt haben, dass dieser wünschenswert wäre. Anders als in Deutschland ist die Pflegeausbildung in Österreich allerdings vollakademisiert, während das primärqualifizierende Pflegestudium die berufliche Pflegeausbildung hierzulande lediglich ergänzt. Aktuell haben die Studiengänge daher Auslastungsprobleme [7].
Bernadette Klapper ist jedoch zuversichtlich, dass die hochschulische Pflegeausbildung mit der geplanten Einführung einer Ausbildungsvergütung deutlich attraktiver wird, und mehr Studierende anziehen werde. Gleichzeitig setze sie sich beim Bundesministerium für Gesundheit für die Schaffung eines Aufbauprogramms und eines bundesweiten Fonds zur Förderung des akademisch ausgebildeten Personals in der Pflege ein, gerade auch um eine berufsbegleitende CHN-Qualifizierung zu ermöglichen [8].
Von den Teilnehmenden im Publikum wird betont, dass Bildungswege zur CHN durchlässig gestaltet werden und damit auch bereits ausgebildeten und berufserfahrenen Pflegefachpersonen offenstehen müssten. Auch Michael Ewers hält es für wichtig, am Masterniveau von CHNs festzuhalten, auch wenn er immer wieder mit der Frage konfrontiert werde, „ob es nicht auch eine Nummer kleiner ginge“. Grundsätzlich könne aber eine beruflich ausgebildete Pflegefachperson mit einem einschlägigen Bachelorabschluss und einem anschließend absolvierten Master in Public Health ebenso für Aufgabenfelder in Frage kommen, in denen CHNs tätig seien. Wichtig sei dabei, so Ewers, die Kombination von pflege- und gesundheitswissenschaftlicher Expertise.
Die Etablierung der CHNs ist ein Vorhaben im aktuellen Koalitionsvertrag der Regierungsparteien. Noch in diesem Jahr sollen erste Eckpunkte für eine gesetzliche Verankerung von Community Health Nursing vereinbart werden.
Für Bernadette Klapper müsse dies unbedingt die Übertragung von Heilkunde beinhalten, zudem müsste die Berufsbezeichnung „Community Health Nurse“ im Pflegeberufegesetz ergänzt werden.
Gottfried Roller betont, dass es keine gesetzlichen Änderungen brauche, damit CHNs im Öffentlichen Gesundheitsdienst tätig werden können, die Gesundheitsdienstgesetze der Länder ließen dies bereits zu. Hier sei vielmehr die Schaffung entsprechender Aufgabenprofile in den jeweiligen Gesundheitsverwaltungen gefragt.
Bernadette Klapper äußert den Wunsch, dass die versprochenen Eckpunkte für Community Health Nursing bald veröffentlicht werden. Gottfried Roller ergänzt, dass ein klarer politischer Wille notwendig sei, um eine neue Kultur in der Primärversorgung und auch im ÖGD zu implementieren. Michael Ewers fordert, dass die Politik den Heilberuf Pflege endlich ernst nimmt, und nicht bloß als eine Ressource auf dem Arbeitsmarkt ansieht, an der es überall fehle.
Die Pflegeprofession sei vielmehr eine eigenständige Berufsgruppe, mit einer originären Berechtigung und Perspektive in der Versorgungslandschaft, deren Potential bei weitem nicht ausgeschöpft werde. Aus dem Publikum wird treffend ergänzt, dass CHN keine Konkurrenz für die Pflege in den Einrichtungen sei. Im Gegenteil, der präventive Ansatz stelle vielmehr eine Bereicherung dar, wodurch die Einrichtungen perspektivisch sogar entlastet werden könnten.
Die Veranstaltung „Community Health Nursing – vom Konzept in die praktische Umsetzung?“ fand am 01.06.2023 in Form eines Onlinegesprächs statt, und wurde für den BAGFW-Fachauschuss Gesundheit organisiert, moderiert und dokumentiert von Dr. Maike Grube (Diakonie Deutschland) und Christian Hener (DRK-Generalsekretariat).
Unser Dank gilt den Podiumsteilnehmenden, dem Publikum, sowie Marion Paustian (Diakonie Deutschland), Stefanie Schlieter (BAGFW) und dem Referat Öffentlichkeitsarbeit der BAGFW für Ihre engagierte Unterstützung.
Der Beitrag wurde ebenfalls auf der Website der BAGFW veröffentlicht