Christian Hener: Community Health Nursing ist gerade in aller Munde, je nach Hintergrund und Interessenslage werden damit unterschiedliche Vorstellungen verbunden. Was ist Community Health Nursing für Dich persönlich?
Tahnee Leyh: Community Health Nursing ist für mich zunächst eine erweiterte Rolle innerhalb der Pflegeprofession. In meiner Arbeit als Community Health Nurse im ländlichen Raum bin ich in der Stadt Luckau die erste Ansprechperson zum Thema Gesundheit, Krankheit und Pflege. Mein Verantwortungsbereich erstreckt sich über eine Stadt mit 19 Ortsteilen, in der ich, neben den etablierten Akteuren, wie den Hausärztinnen und Hausärzten, als erste Ansprechpartnerin zur Verfügung stehe. Meine Arbeit zeichnet sich viel durch Lotsen und Weitervermitteln aus, parallel dazu gehe ich aber auch in die direkte medizinisch-pflegerische Versorgung. Das ist es für mich.
Christian Hener: Du arbeitest derzeit als Gemeindegesundheitspflegerin im DRK-Kreisverband Fläming/Spreewald. Wie kam es dazu, dass der Kreisverband diese Stelle geschaffen hat?
Tahnee Leyh: Genau, Gemeindegesundheitspflegerin ist der Versuch einer Übersetzung des Begriffs Community Health Nurse ins Deutsche. Ich hatte schon vor dieser Stelle eine Anstellung bei dem DRK-Kreisverband Fläming/Spreewald, nämlich als Projektkoordinatorin für eine gesundheitsbezogene Sozialraumanalyse in der Kommune, in der ich nun tätig bin. Hier ging es erst einmal darum zu schauen, welche Bedarfe haben die Menschen, und was brauchen sie, um medizinisch und pflegerisch gut versorgt zu sein, und so lange wie möglich zuhause wohnen zu können. Auf die Sozialraumanalyse bin ich durch einen Zeitungsartikel aufmerksam geworden. Da dieses Thema gerade erst in meinem Masterstudium „Community Health Nursing“ behandelt wurde, war ich sofort interessiert. Von einer Redakteurin der Lokalzeitung habe ich die Kontaktdaten des DRK-Kreisverbandes erhalten. Dort habe ich angerufen und einfach unverbindlich nachgefragt, ob ich mir das Projekt einmal anschauen kann. Dies war gerade die Phase der Fragebogenerstellung. Aufgrund meines Hintergrunds als Pflegefachperson und CHN-Masterstudentin konnte ich mich hier direkt konstruktiv einbringen, sodass mir die Projektkoordination sogleich angeboten wurde. So bin ich da reingekommen.
“Viele wissen nicht, welche Angebote es in der Region gibt; an wen kann ich mich wenden, wenn ich pflegebedürftig werde, oder aber ernsthaft erkranke?”
Christian Hener: Was ist dann passiert?
Tahnee Leyh: Die Ergebnisse der Sozialraumanalyse haben ergeben, dass sich die Bevölkerung von Luckau eine Person wünscht, die sie bei der Navigation durch das Versorgungssystem unterstützt. Gerade im ländlichen Raum ist Mobilität ein großes Thema, wie komme ich eigentlich zu Primärversorgungsangeboten? Viele wissen auch gar nicht, welche medizinisch-pflegerischen Angebote es in der Region gibt; an wen kann ich mich wenden, wenn ich zunehmend pflegebedürftig werde, oder aber Sorge habe, dass ich ernsthaft erkrankt sein könnte? Wir haben uns dann gemeinsam dazu entschieden diese Stelle zu schaffen, und haben unser Konzept der Stadt vorgestellt. Die Stadt hat glücklicherweise mitgemacht – und dann gab es die CHN-Stelle. So war das.
Christian Hener: Dadurch hattest Du also die Möglichkeit, den Prozess von Beginn an zu begleiten?
Tahnee Leyh: Ja, total! So eine Bedarfserhebung ist auch immens wichtig, um erst einmal eine Arbeitsgrundlage zu haben, um zu wissen in welche Richtung es gehen kann. Denn jede Kommune, bzw. in meinem Fall jeder Ortsteil, hat wahrscheinlich ähnliche, aber am Ende doch individuelle Bedarfe, die erst einmal erkannt werden müssen, um daraus konkrete Handlungsstrategien ableiten zu können. Und nur so konnte ich dann mein Arbeitskonzept entwickeln. Ich habe mich dort an dem Modell der Hamburger Poliklinik auf der Veddel orientiert. Und organisiere gerade eine Pflegesprechstunde, Hausbesuche und Gruppenangebote. Daneben bewege ich mich aber auch im Bereich der öffentlichen Gesundheit, arbeite eng mit Hausärztinnen und Hausärzten, anderen medizinisch pflegerischen Akteuren, der Stadt Luckau, den Ortsvorstehenden und dem Landkreis zusammen. Das Spektrum ist also unheimlich breit gefächert.
Christian Hener: Das ist ja Community Health Nursing, wie aus dem Lehrbuch! Für Dich war es sicher eine bereichernde Erfahrung, nicht nur die Bedarfe zu erheben – sondern auch direkt in Aktion treten zu können? Stichwort: Berufliche Selbstwirksamkeit.
Tahnee Leyh: Das war auch von vorneherein meine Hoffnung, denn ich habe zu dem Zeitpunkt der Bedarfserhebung noch im Krankenhaus gearbeitet, und habe auf diesem Wege die Versorgungssituation in Luckau auch ganz konkret miterlebt, etwa wo sich Versorgungslücken befinden, oder wo es Drehtüreffekte gibt. Ich dachte mir immer, dass es doch eine Instanz geben muss, bei der die Fäden zusammenlaufen, wo die Akteure, die es vor Ort gibt, die wenigen raren Ressourcen, miteinander verknüpft und vernetzt werden.
"Wo kommen Krankheiten her? Wie entstehen sie? Wie und unter welchen Bedingungen leben die Menschen? Und was braucht es, um gesund zu sein?"
Christian Hener: Während Community Health Nurses in vielen Ländern fest etabliert sind, tun wir uns in Deutschland damit nach wie vor schwer. Woran liegt das Deiner Ansicht nach?
Tahnee Leyh: Hier kommen mehrere Faktoren zusammen. Einerseits liegt das an unserem medizindominierten Gesundheitssystem, in dem vor allem Krankheiten behandelt werden, ohne tatsächlich nach den Ursachen zu fragen. Wo kommen Krankheiten her? Wie entstehen sie? Wie und unter welchen Bedingungen leben die Menschen? Und was braucht es, um gesund zu sein? Darüber hinaus, und ich weiß, das hört man nicht gerne, liegt das auch ein bisschen an unserer eigenen Berufsgruppe, der in Teilen das berufliche Selbstverständnis fehlt. Viel zu häufig ordnen wir uns unter; arbeiten eher assistierend, anstatt selbstbewusst dafür einzutreten, was wir können und was wir demzufolge auch dürfen sollten. Teilweise fehlt auch die Bereitschaft sich fachlich weiterzuentwickeln und sich dadurch ein gewisses „Standing“ anzueignen, um zu sagen: „Ich kann das, und ich kann das auch neben Dir als Arzt / als Ärztin leisten!“ Ich glaube das ist ein großer Punkt, und natürlich die unzureichende Abbildung der Pflegeprofession in den Organen der Selbstverwaltung. Es fehlt eine Stimme, die den dominierenden Akteuren im Gesundheitswesen sagt, was die Menschen jenseits der medizinischen Versorgung brauchen, um gesund zu werden bzw. gesund zu bleiben.
Christian Hener: Könnte genau das, die anwaltschaftliche Vertretung der Menschen vor Ort, nicht auch ein Aufgabenfeld für Community Health Nurses sein?
Tahnee Leyh: Ja, total! Und das auf verschiedenen Ebenen. Anwaltschaft zu übernehmen, sowohl für diese „kleine“ Ebene der Familie, bzw. der Gemeinschaft, in der Menschen gerade leben, und zu schauen, was brauchen diese Familien oder diese Gemeinschaften gerade? Um dann noch einmal kommunalpolitisch zu überlegen, wie stellen wir uns hier gesundheitlich auf? Haben wir auf dem Schirm, dass wir Gesundheit auch auf einer systemischen Ebene beeinflussen können? Was tun wir schon dafür? Und was wollen wir zukünftig unternehmen? Die direkte Verzahnung zwischen den gesundheitlichen Lebenswelten der Menschen und den politischen Entscheidungsträgern ist dann auch das Alleinstellungsmerkmal dieser Pflegerolle.
“Wir haben keine Berufsordnung. Wie sollen sich daraus konkrete Stellenbeschreibungen entwickeln lassen?”
Christian Hener: Gleichzeitig – oder vielleicht gerade deshalb bekommt das Thema CHN so viel Aufmerksamkeit wie nie. Die Pflegeberufe insgesamt rücken zunehmend ins Scheinwerferlicht der Politik. Mit den Eckpunkten für ein Pflegekompetenzgesetz liegt gerade ein ambitionierter Plan vor, um die Pflegeberufe in Deutschland international anschlussfähig zu machen. Wie bewertest Du diese Entwicklung?
Tahnee Leyh: Super bewerte ich die (lacht), nein wirklich, sehr positiv! Aber einfach viel zu spät, weil uns bis heute wesentliche Elemente eines professionalisierten Berufs fehlen. Wir haben keine Berufsordnung, dementsprechend ist nirgends festgehalten, welche Qualifikationsniveaus für welche Aufgabenfelder qualifizieren. Wie sollen sich daraus konkrete Stellenbeschreibungen entwickeln lassen, wenn wir keine berufsständischen Grundlagen dafür haben? Insofern sind die Eckpunkte des Pflegekompetenzgesetz ein erster großer Schritt in diese Richtung. Selbst aus unserer eigenen Berufsgruppe kommen ja die Fragen: „Ich habe einen Bachelor, was mache ich damit? Ich habe einen Master, was mache ich damit?“ Oder: „Wofür brauchen wir das überhaupt?“ Gefühlt stehen wir in der Pflegeberufsentwicklung bei Minus hundert und fangen gerade erst damit an unseren Beruf zu professionalisieren.
Christian Hener: Meinst Du, dass man überhaupt erst einmal auf ein gewisses internationales Niveau in der Pflegeberufsentwicklung kommen müsste, um dann den ganzen Rest zu klären?
Tahnee Leyh: Ja, genau! Wir sind gerade erst dabei uns zu sortieren. Das ist jetzt ein erster Schritt in diese Richtung.
Zum zweiten Teil der Interviewreihe: “Woran das Gesundheitssystem krankt” geht es hier entlang.
Tahnee Leyh ist Gemeindegesundheitspflegerin für die Stadt Luckau im DRK-Kreisverband Fläming-Spreewald. Sie ist Gesundheits- und Krankenpflegerin und M.Sc. in Community Health Nursing/ Erweiterte Pflegepraxis/ ANP.
Christian Hener ist Referent für Bildung und Qualitätsentwicklung in der Pflege im DRK-Generalsekretariat. Er ist Gesundheits- und Krankenpfleger und M.Sc. in Gesundheits- und Pflegewissenschaften.