In Folge 4 unserer Blogserie sprechen wir mit der Sozialpädagogin Andrea Wewers-Brüggemann, die seit 2005 für das DRK als Leitung des Ganztagsbereichs in der Von-Galen-Grundschule, einer offenen Ganztagsschule (OGS) in Gescher / Nordrhein-Westfalen, tätig ist. Sie ist eine von drei OGS, in denen der DRK-Kreisverband Borken aktiv ist.
In NRW wird der Ganztagsprozess seit 2003 dynamisch ausgebaut. Entsprechend sind derzeit 96% aller dortigen Grundschulen als OGS organisiert – basierend auf der Kooperation von Jugendhilfe und Schule (Trägermodell) mit außerschulischen Partnern.
Die Von-Galen-Grundschule versteht sich als Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsangebot. Der Ganztagsbereich der Van-Galen-Grundschule bietet allen Beteiligten innerhalb der Räumlichkeiten der Schule einen verlässlichen Rahmen: An Schultagen von 11:30 Uhr bis 17:00 Uhr (Mo.-Do.), bzw. 11:30 Uhr bis 15:30 Uhr (Fr.) - unter dem Rotkreuz-Motto: „Vielfalt, Gemeinschaft, Bildung (er)leben!“ Er verfügt über 75 Plätze für Schulkinder, aufgeteilt - gem. NRW-Kita-Schlüssel (25 Kinder: Gruppe) – auf drei Gruppen, die in den letzten Jahren jedoch zu einem „offenen System“ ausgebaut wurden. Das bedeutet, dass die kitaüblichen Gruppen durch verschiedene Bereiche wie einen Spieltreff, Kreativbereich, ein Lernstudio, den Speiseraum oder Außenbereich, die die Kinder frei wählen dürfen, abgelöst wurden. Pro Bereich stehen den Kindern dabei je 1-2 Erzieher/-innen der insgesamt 9 Betreuungskräfte zur Seite. Sie alle sind in Teilzeit beschäftigt und bis auf eine einschlägig pädagogisch qualifiziert – was laut Andrea Wewers-Brüggemann eher einem “Schlaraffenland“ gleicht als die aktuelle Fachkräftesituation im Ganztag vor Ort realistisch abzubilden.
Der pädagogische Ansatz des Ganztagsbereichs ist offen – „situationsorientiert“. Dahinter verbirgt sich die Idee: „Das Kind zur Rose machen“ (Saint-Exupéry), in den Mittelpunkt zu rücken und in seiner Einzigartigkeit wahr- und anzunehmen
Das Verfahren für die Bewerbung von Trägern von Ganztagsangeboten im Kreis Borken erfolgt über den Schulträger, bzw. die Kommune. Innerhalb dessen wird zwischen dem Jugendhilfeträger, der Kommune sowie der beteiligten Schule ein Kooperationsvertrag mit mehrjähriger Laufzeit abgeschlossen.
Darin sind u.a. die wechselseitigen Rechte u. Pflichten, die unterschiedlichen Zuständigkeiten der kooperierenden Partner, die Aufgaben und Pflichten der Schule eingehender bestimmt. Ebenso sind darin Angaben zum Personalschlüssel: 2:25 (inkl. bei Bedarf unterstützende Kräfte) und zur
Ferienregelung (Kommunen-spezifisch, nicht überall) - geöffnet für Schulkinder außerhalb des geregelten Betreuungssettings - festgelegt.
Die Finanzierung erfolgt über einen Landeszuschuss pro sog. „Regelkind; im Fall von Kindern mit Förderbedarf erhöht sich der Betrag. Hinzu kommen die Elternbeträge (gestaffelt) sowie der Eigenanteil der Kommune.
Mehr Plätze - weniger Räume - wachsende Risiken
Ein grundsätzliches Problem beim Ausbau des Ganztagssettings sieht Andrea Wewers-Brüggemann derzeit darin, dass an vielen Standorten die räumlichen Gegebenheiten (Beispiel: 50 Kinder in einem 50 Quadratmeter-Raum mit 1,5 Kräften) noch suboptimal ausgestaltet sind, so dass die in den Schutzkonzepten formulierten Vorgaben und Strukturen ggf. nicht mehr ausreichend umgesetzt werden können. Die Disproportionalität von Plätzen – Räumen und Betreuungspersonal geht dann zuvörderst zu Lasten des Schutzes der Kinder und der Betreuungsqualität.
Deshalb plädiert sie dafür: Solange es noch keinen rechtlichen Überbau für den offenen Ganztag gibt, muss das Gesetz, bzw. der Erlass dazu unbedingt ermöglichen, dass dem Rechtsanspruch auf einen Platz im Ganztag nur insoweit gegeben werden kann, wie die Akteure vor Ort unter den tatsächlichen Bedingungen die Plätze möglich machen können.
Erschwerte pädagogische Arbeitsbedingungen
Durch die o.a. suboptimalen räumlichen Gegebenheiten wird der Lärmpegel in den Einrichtungen zu- und die Rückzugs- und Ruhemöglichkeiten für die Kinder abnehmen. Adäquate pädagogische Betreuungsleistungen werden dadurch massiv erschwert - insbesondere in Konfliktsituationen, die eine konstruktive und professionelle Konfliktbearbeitung erfordern. Besondere Risiken sind damit v.a. für Kinder mit sozial-emotionalen Auffälligkeiten verbunden. Ebenso sieht sie die wachsende Gefahr, dass Konfliktsituationen schneller eskalieren und das anhaltend hohe Gewaltpotential unter Grundschulkindern infolgedessen noch anwachsen könnte.
Erschwerend hinzu kommt für sie, dass durch den zunehmenden Einsatz von nicht oder nicht-ausreichend pädagogisch qualifiziertem Personal im Ganztag oder nicht besetzte Stellen eine gute Bildungsarbeit nicht leistbar ist.
Baustelle politische Kommunikation
Auch in Bezug auf die Kommunikation von Trägern, Kommune und Schule miteinander, sieht Andrea Wewers-Brüggemann noch Verbesserungspotential. Zwar tendieren die Schulträger i.E. zunehmend dazu, sich auf den Weg zu machen, alle Akteure mitzunehmen – die wichtigsten Entscheidungen werden dennoch weiterhin ohne engere Einbindung der kooperierenden Träger im Rathaus getroffen - oder auch unterlassen. So werden aus Kostengründen viele notwendige Rahmenbedingungen nicht geschaffen.
Plädoyer für mehr Personal, Fachkräftebindung und -gewinnung
Vor diesem Hintergrund plädiert Andrea Wewers-Brüggemann klar für einen – explizit an die Entwicklung und Entwicklungsveränderungen heutiger Schulkinder angepassten - Betreuungsschlüssel in den OGS.
Außerdem wirbt sie für mehr Ideen und Initiativen, um Fachkräfte, die für die zunehmend herausfordernde pädagogische Arbeit dringlich erforderlich sind, enger zu binden und zu gewinnen. Dafür müssen die Arbeits- und Rahmenbedingungen in den Einrichtungen angepasst und nicht zuletzt auch familienfreundlich ausgestaltet werden.
Mehr Raum für Ruhe und Rückzug
Eine alltagspraktische Maßnahme zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen stellt für sie, wie oben bereits erwähnt, deshalb auch die Forderung nach mehr Raum für Rückzugs- und Ruhemöglichkeiten für die ganztagsbetreuten Kinder dar. Von mehr Ruhe- und Rückzugsoptionen profitieren gleichermaßen betreuten Kinder wie auch die Fachkräfte.
Regelmäßiger lösungsorientierter Austausch innerhalb der „Träger-Steuerungsgruppe“ vor Ort
Fakt ist: Je besser die Rahmenbedingungen im Ganztagssetting gesetzt sind, desto besser können die verantwortlichen Ganztags-Akteure vor Ort ihrer Arbeit nachgehen. Dafür ist insbesondere auch eine gute Kommunikation und Kooperation zwischen Jugendhilfeträger, der Kommune sowie der beteiligten Schule nötig. Deshalb ist es für Andrea Wewers-Brüggemann wichtig, möglichst viele Best-practice- Beispiele für gelingende Kooperationen und Kommunikation in und mit Kommunen in ihrer politischen Stellschraubenfunktion vorzuhalten. Vor allem da diese in Bezug auf das Thema Ganztag aus Furcht vor Kostenexzessen zu einer gewissen „Vogel Strauß-Politik“ tendieren.
Gerade deshalb wünscht sie sich – noch vor der Einführungsphase des Rechtsanspruchs 2026 - auf politischer Ebene mehr Austausch innerhalb der etablierten „Träger-Steuerungsgruppe“ vor Ort: Insbesondere regelmäßige Treffen zu aktuell brisanten Fragen: Was ist unser Stand vor Ort? Was brauchen wir konkret jetzt?
Mit dem Ziel, gemeinsam den besten Lösungsweg bei der Umsetzung der der ganztägigen Bildung und Betreuung zu finden.
Denn dieses besteht für Andrea Wewers-Brüggemann kurz und bündig darin, unbedingt in Qualität zu investieren – schließlich geht um nichts Geringeres als die Erwachsenen von morgen.