Charlotte Giese (ChG): Ich denke vor allem an die Bedeutung der Kinder- und Jugendhilfe als Infrastruktur. Als DRK bieten wir mit einer breiten Palette an Angeboten und fachlicher Expertise wichtige Unterstützung für junge Menschen in Deutschland. Diese Angebote sind unverzichtbar, werden aber oft unterschätzt.
Aus meiner Sicht ist genau diese Unterschätzung der gesellschaftlichen Bedeutung der Kinder- und Jugendhilfe ein großer Knackpunkt. Angebote für Kinder und Jugendliche fallen leicht Sparvorgaben zum Opfer. Die Diskussion hat mir bestätigt, dass unser Ziel richtig ist, die Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe zu stärken, weiterzuentwickeln und noch bekannter zu machen.
Dabei ist es wichtig, noch stärker auf die tatsächlichen Bedürfnisse der jungen Menschen eingehen. Der 17. Kinder- und Jugendbericht setzt genau hier an und hat junge Menschen erstmals an der Erarbeitung des Berichts beteiligt. Sie haben einen Zwischenruf formuliert, der u.a. die gesetzliche Verankerung dieser Beteiligung fordert. Wenn sie ihre Bedürfnisse äußern und wir ihnen zuhören, nehmen junge Menschen Einfluss, sodass wir mit passenden Angeboten unterstützen können. Wenn junge Menschen wissen, dass sie gehört werden, ist das ein großer Gewinn für die Gesellschaft. Die Tagung hat mir eindrücklich gezeigt, wie viel Potenzial in der Kinder- und Jugendhilfe steckt.
Die Bundesregierung ist gesetzlich verpflichtet, dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat in jeder Legislaturperiode einen "Bericht über die Lage junger Menschen und die Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe" vorzulegen und dazu Stellung zu nehmen.
Kinder- und Jugendberichte gibt es seit den 1960er Jahren. Später wurde geregelt, dass jeder dritte Kinder- und Jugendbericht einen Überblick über die Gesamtsituation der Kinder- und Jugendhilfe vermittelt. Der 17. Kinder- und Jugendbericht ist ein solcher Gesamtbericht.
Er ist eine wichtige Grundlage für die Fachdiskussion um die Ausrichtung und Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland.
Ute Degel (UD): Ein zentrales Thema der Tagung war Vertrauen als Schlüssel für Zuversicht. Besonders spannend fand ich die Aussagen von Prof. Dr. Philipp Sandermann aus der Vertrauensforschung. Vertrauen braucht Mut. Kinder, Jugendliche und ihre Sorgeberechtigten schenken der Kinder- und Jugendhilfe einen immensen Vertrauensvorschuss. Doch diese Verantwortung müssen wir ernst nehmen. Die Kinder- und Jugendhilfe muss durch moralische Integrität, Kompetenz und Wohlwollen zeigen, dass dieses Vertrauen gerechtfertigt ist.
Deshalb ist Transparenz ganz entscheidend: Die Kinder- und Jugendhilfe muss sich ehrlich machen – vor allem, was ihre Grenzen angeht. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass die Kinder- und Jugendhilfe nicht alle gesellschaftlichen Probleme lösen kann. Dieses Narrativ funktioniert nicht (mehr), denn schlussendlich reproduziert die Kinder- und Jugendhilfe auch gesellschaftliche Diskriminierungen und soziale Ungleichheiten.
ChG: Den Gedanken finde ich sehr wichtig. Ich finde es hilfreich, uns immer wieder selbstkritisch zu hinterfragen und den Anspruch bzw. das Versprechen, die ultimative Lösung für alle Problemlagen bereitzuhalten, selbstbewusst loszulassen. Gesellschaft verändert sich und damit auch die Herausforderungen für junge Menschen. Unsere Aufgaben müssen sich den tatsächlichen Bedarfen und Lebenslagen der Jugendlichen flexibel anpassen können. Vertrauen spielt auch hier eine große Rolle.
Ich frage mich, wie wir unseren Anspruch, Kinder und Jugendliche bedarfsgerecht zu unterstützen, mit den verfügbaren Ressourcen in Einklang bringen. Die Personallücken werden sich nicht von selbst auflösen, im Gegenteil. Wenn wir davon ausgehen, dass die Kinder- und Jugendhilfe ausgebaut werden soll, etwa durch den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung, bedeutet das ja eigentlich, dass wir noch mehr Fachkräfte brauchen. Oder andere Lösungsstrategien.
UD: Ich fand es bemerkenswert, wie klar die Herausforderungen benannt wurden: Es gibt keinen Fachkräftemangel mehr, sondern schon einen Arbeitskräftemangel. Das betrifft auch, aber nicht nur die Kinder- und Jugendhilfe und sie kann dieses Problem nicht allein lösen. Es wurde klar, dass die Trägerstruktur der Kinder- und Jugendhilfe statistisch sehr stabil ist, jedoch nicht mehr zu den heutigen gesellschaftlichen Dynamiken passt. Die Träger müssen sich diverser aufstellen, um verschiedenen Zielgruppen besser gerecht zu werden. Neue Träger können hinzugezogen werden, um spezifische Bedarfe abzudecken.
Prof. Dr. Böllert plädierte dafür, die Diskussion nicht nur um mehr Geld und Personal zu führen, sondern zu fragen:
Diese Fokussierung ist für uns im DRK handlungsleitend: Wir wollen „Hilfe nach dem Maß der Not“ leisten - präzise und bedarfsorientiert.
ChG: Es ist klar, dass mit den aktuellen Herausforderungen, vor allem im Bereich Personal und Finanzierung, eine Fokussierung auf die wesentlichen Aufgaben wichtig wird. Gerade mit dem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung brauchen wir eine präzise Zieldefinition und mehr Effizienz, um mit den vorhandenen Ressourcen das Richtige zu tun. Die aktuellen Diskussionen zeigen mir, dass wir nach der Bundestagswahl im Februar kaum damit rechnen können, dass sich kurzfristig finanziell oder personell etwas ändert.
Wir brauchen den grundsätzlichen politischen Willen, das Potenzial der Kinder- und Jugendhilfe zu entfalten und sie langfristig auf solide Füße zu stellen. Dafür setzen wir uns als Wohlfahrtspflege auch weiter aktiv ein. Realistisch im Blick behalten müssen wir dabei die auf eine Legislatur bezogene politische Denk- und vor allem Handlungsweise. Diese werden wir absehbar nicht überwinden, auch wenn es – nicht nur – für die Kinder- und Jugendhilfe sehr wünschenswert wäre.
Und wichtig ist vor allem auch, dass die Erkenntnisse aus dem Kinder- und Jugendbericht in die Praxis einfließen. Karin Böllert hat in ihrem Abschlussstatement eine Analyse zitiert, nach deren Erkenntnis es etwa zwölf Jahre dauert, bis Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendbericht im Fachdiskurs ankommen. Ich wünsche mir sehr, dass wir dieses Mal schneller sind.
UD: Ja, das wäre wünschenswert. Besonders inspirierend fand ich daher das Schlusswort eines Teilnehmers des Jugendaudits:
Die Fachtagung zum 17. Kinder- und Jugendbericht hat eindrucksvoll gezeigt, wie wichtig Vertrauen, Transparenz und Selbstreflexion in der Kinder- und Jugendhilfe sind. Zugleich wurden politische und gesellschaftliche Herausforderungen klar benannt. Um junge Menschen wirkungsvoll zu unterstützen, braucht es strukturelle Weiterentwicklungen und eine stärkere Einbindung ihrer Lebensrealitäten.
Also: Dranbleiben – und den Wandel aktiv gestalten.
Auf dem Foto sind Ute Degel (links), Referentin für Kindertagesbetreuung mit dem Schwerpunkt „Qualität mit Profil“, und Dr. Charlotte Giese (rechts), Referentin für Grundlagen der Jugendhilfe. Die beiden Expertinnen teilen in diesem Interview ihre Perspektiven und Einsichten zum Thema des 17. Kinder- und Jugendberichts. Ihre fachliche Expertise und ihre engagierte Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe tragen maßgeblich dazu bei, die Weiterentwicklung und die strukturellen Herausforderungen in diesem Bereich voranzutreiben.