Ganztag - Mehr als eine Blase

Ganztag im Ausbau – Kinder, Eltern und Beschäftigte nicht vergessen

Der im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD verhandelte Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder rückt in greifbare Nähe. Bis 2025 soll er umgesetzt und im SGB VIII verankert werden. Jedes Kind der Klassenstufen 1 bis 4 könne dann nach Bedarf sowohl über die Mittagszeit als auch über den Nachmittag betreut und in der Entwicklung gefördert werden. Familien sollen in die Lage versetzt werden, ihre berufliche Tätigkeit besser mit dem Erziehungsauftrag vereinen zu können. Auf die Lebenswirklichkeiten von Kindern und aller an der Erziehung und Bildung beteiligten Gruppen zu achten, ist dabei besonders wichtig. Der Erfolg eines flächendeckenden Ganztags ist für viele Menschen in Deutschland von großer Bedeutung. Für Lehrpersonal, pädagogische Fachkräfte, Mädchen und Jungen, Mütter und Väter. Deshalb benötigt es ein gut ausgearbeitetes Gesetz, bei dessen Entwicklung auch die Vielzahl der beteiligten Personen mit einbezogen wird.

Bei einem zivilgesellschaftlichen Dialog von Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) am 24.06.2020 wurde berichtet, dass sich Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten überwiegend auf die Umsetzung des Rechtsanspruchs bis 2025 geeinigt haben. Dabei sicherte der Bund mit zusätzlichen 1,5 Mrd. Euro eine Gesamtsumme von 3,5 Mrd. Euro Investitionsmittel zum Ausbau der Strukturen im Ganztag zu. Auch an den laufenden Betriebskosten wolle er sich beteiligen. Damit die Finanzierung dieses Vorhabens noch für diese Legislaturperiode gesichert werden kann, wird durch die Ministerien ein verkürztes Gesetzgebungsverfahren angestrebt. Im Herbst schon soll es zur Abstimmung des Gesetzes kommen. Weniger inhaltliche als finanzielle Aspekte scheinen dabei bisher im Vordergrund zu stehen. Wohlfahrtsverbände befürchten bei der Kürze des Verfahrens nicht ausreichend gehört zu werden. Sie fordern, die Berücksichtigung von Qualitätskriterien bei der Arbeit am Gesetzesentwurf nicht zu vernachlässigen. Der „Rechtsanspruch muss für Kinder, Eltern und Beschäftigte ein Erfolg werden“, so lautet es in einer gemeinsamen Erklärung der Spitzenverbände der Arbeiterwohlfahrt (AWO), Diakonie Deutschland, Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) und des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Worum geht es im Detail?   

Bedürfnisse und Wünsche der Grundschulkinder einbeziehen

Zur Gestaltung einer guten Ganztagsbetreuung ist es zentral, die Perspektive der Kinder für die inhaltliche Ausgestaltung der Angebote und Strukturen einzunehmen. Was ist für Kinder wichtig? Was brauchen sie? Was müssen ganztägige Angebote leisten, um eine bedarfsgerechte Betreuung, Erziehung und Bildung gewährleisten zu können? Diese Fragen sind wichtig, geht es doch um die Gestaltung eines bedeutsamen Teils der alltäglichen Lebenswelt der Kinder, der durch einen Ausbau der Ganztagsbetreuung stärker institutionalisiert werden soll. Nach Art. 12 der UN-Kinderrechtskonvention haben Kinder ein Recht darauf, dass ihre Meinung berücksichtigt wird. Ebenso stellen die in Art. 31 aufgegriffenen Bedürfnisse von Kindern auf „Ruhe und Freizeit (…) Spiele und altersgemäße aktive Erholung“ sowie auf Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben wichtig Orientierungspunkte dafür dar, welche Anforderungen der Ganztag aus Kinderperspektive erfüllen sollte. Hierzu braucht es Zeit und einen Sinn für Detail, damit politische Entscheidungen für den Ausbau und der Förderung des Ganztags auch für die positive Entwicklung von Kindern gute Bedingungen schaffen.

Gewährleistung fachlicher Standards – gut ausgebildetes Personal gewinnen

Ein Ausbau der Infrastruktur für Ganztagsangebote allein, kann die Herausforderungen des Rechtsanspruches nicht ausreichend lösen. Nicht nur Neubauten, Sanierung und Ausstattung, sondern auch gut qualifiziertes Personal in ausreichendem Umfang sind wichtig. Nur so kann die gewünschte Bildungsgerechtigkeit hergestellt und die adäquate Betreuung der Kinder durchgehend von morgens bis nachmittags gesichert werden. Wie man das benötigte Personal bei einem Ausbau gewinnt, müsse daher ständig mit im Blick politischer Entscheidungen liegen. Durch den stärkeren Ausbau im Ganztag wird die aktuell bereits hohe Nachfrage an Fachkräften sozialer Berufe noch stärker steigen. Dabei kann eine Konkurrenzbeziehung zu den Kitas und den Hilfen zur Erziehung entstehen. Damit dies nicht geschieht, müssen die Rahmenbedingungen zur Fachkräftegewinnung verbessert werden. Es gilt die Frage zu beantworten, wie man zusätzlich ausreichend gutes Personal bei den aktuellen Bedingungen des Arbeitsmarktes gewinnen kann.

Die Attraktivität sozialer Berufe steigt seit der Wiedervereinigung Deutschlands im Allgemeinen. In der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland arbeiten heute mehr Menschen denn je. Im Jahr 2016 waren es 973.143 Beschäftigte. Seit dem Jahr 2010 stellt dies einen Anstieg um ungefähr 25% dar. Die Zuläufe junger Menschen zu den Fach- und Hochschulen im Bereich der frühkindlichen Bildung steigen ebenso an. Hier insbesondere ist ein großes Potential für die Gewinnung von Fachkräften zu erkennen. Zu diesem Schluss kommt die Autorengruppe des „Fachkräftebarometer Frühkindliche Bildung 2019“[1]. Zur Deckung des Fachkräftebedarfs könnten folglich stärkere Impulse zum Ausbau von Ausbildungsplätzen Teil einer Strategie darstellen. Nur mit ausreichend qualifiziertem Personal schafft man einen guten Fachkraft-Kind-Schlüssel und verringert im Vorfeld gleichzeitig die Gefahr zu hoher Belastung des Personals im Ganztag.     

Flexible und vielfältige Strukturen – Kooperationen ermöglichen

Familien sollen nach den Plänen der Bundesregierung durch den Ausbau der Ganztagsbetreuung entlastet werden. Die Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Beruf könne durch ein flächendeckendes Angebot unterstützt werden. Dies legen Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) nahe[2]. Insbesondere würden sich Frauen durch einen Anstieg an Ganztagsangeboten stärker dem Job widmen und wöchentlich in einem höheren Zeitumfang der beruflichen Tätigkeit nachgehen können. Den darüber hinaus komplexeren und vielfältigeren Lebensumständen von Familien in Deutschland muss neben dieser Perspektive jedoch auch genügend Raum gegeben werden. Welcher Art müssen die Angebote sein, damit sie der Pluralität der Lebensverhältnisse in Deutschland gerecht werden kann? Wird Müttern und Vätern noch genug Einblick in die Entwicklung der Kinder möglich sein, wenn diese weniger Zeit im häuslichen Umfeld verbringen? Kann sich die Beziehung zwischen Kindern und Eltern durch mehr Distanz im Alltag verschlechtern? Werden die Ganztagskonzepte an Schulen stärker geschlossen ausgebaut, bei denen die Kinder an festen Tagen verpflichtend länger in der Schule bleiben? Oder wird das Mittags- und Nachmittagsangebot additiv freiwillig angesetzt? Ist es möglich den Ganztag nach den individuellen Umständen der Kinder und Eltern flexibel umzusetzen – mit einer guten Kooperation zwischen Schulen, Horten und den erziehungsberechtigten Personen?

Ein Gedankenspiel dazu. Ein alleinerziehender Vater arbeitet 20 Stunden als Altenpfleger. Er hat den Wunsch, so gut er kann, für seine 7-jährige Tochter zu sorgen. Gleichzeitig pflegt er seinen 60-jährigen demenzkranken Vater. Lange Arbeitstage sind ihm immer erst einen Monat im Voraus bekannt. Ein Ganztagsangebot würde ihm gerade an langen Tagen im Job sehr entgegen kommen. Doch auch, wenn er die Arztbesuche des Vaters übernehmen muss und seiner Tochter weniger Aufmerksamkeit schenken kann. Gute Förderungsbedingungen durch Fachkräfte und altersgerechtes Spiel mit anderen Kindern, findet er hier viel sinnvoller. Doch wenn er nachmittags frei hat, möchte er mit seiner Tochter und seinem Vater an die frische Luft in den Wald. Hier können sie alle den Stress des Alltags ablegen und gemeinsam die Seele baumeln lassen. Für den familiären Zusammenhalt sehr wichtig. Deshalb wünscht er sich offene, flexible Angebote und eine gute Zusammenarbeit der Anbieter des Ganztags, damit er bei seinem schwer planbaren Alltag zum einen die gemeinsame Zeit mit der Familie haben und zum andern die Tochter besser unterstützen kann, wenn er selbst ihr nicht, wie gewünscht, die besondere Aufmerksamkeit geben kann. 

Wohlfahrtsverbände ausreichend anhören – Qualitätskriterien verankern

Damit der Rechtsanspruch auf Ganztag für alle Beteiligten erfolgreich umgesetzt werden kann, ist der Qualitätsaspekt unabdingbar. Das DRK bringt in der gemeinsamen Erklärung mit den beteiligten Verbänden seinen Wunsch zum Ausdruck, ausreichend zu Detailfragen angehört zu werden und Qualitätskriterien bereits im SGB VIII verankert zu wissen. Wir hören die Stimmen der Eltern, Kinder, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter direkt aus den Einrichtungen und sind in der Lage die Bedürfnisse der verschiedenen Gruppen einschätzen und weitergeben zu können.

In der gemeinsamen Erklärung von AWO, GEW, Diakonie und DRK wurde deshalb der Wunsch gegenüber den Ministerien formuliert[3], dass „Bund und Länder (…), alle Entscheidungen darauf hin (…) überprüfen, inwieweit sie der strukturellen Verbesserung der Ganztagsangebote dienen (…), der Qualität im Ganztag einen angemessenen Raum einzuräumen und unsere Fachlichkeit in die Beratungen einzubeziehen!“

[1]Autorengruppe Fachkräftebarometer (2019): Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2019. München: Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF).

[2]Bach, Stefan et al. (2020): Fiskalische Wirkungen eines weiteren Ausbaus ganztägiger Betreuungsangebote für Kinder im Grundschulalter. Politikberatung Kompakt 146. Berlin: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).

[3] Die gemeinsame Erklärung der Spitzenverbände von AWO, GEW, Diakonie und DRK zum Ganztag findet sich unter folgender URL: https://www.awo.org/sites/default/files/2020-07/20_07_23_Gemeinsame-Erklaerung-Ganztag-web_1.pdf  

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