Herr Steinke, man hört oft, die Freie Wohlfahrtspflege sei „traditionell“, ist das so?
Das ist ja gar nicht so falsch. In den letzten Jahren haben wir viele beeindruckende Jubiläen gefeiert. Und nächstes Jahr stehen weitere an. Der Paritätische feiert 2024 sein Hundertjähriges, die Bundesarbeitsgemeinschaft BAGFW, in der Spitzenverbände gemeinsam agieren, ebenfalls. Die Freie Wohlfahrtspflege hat sich in den Jahren der Weimarer Republik formiert, ihre Wurzeln reichen sogar noch weiter zurück. Sechs Verbände mit ihren eigenen Geschichten, die bis heute fortwirken.
Ich habe den Eindruck, dass das Adjektiv „traditionell“ manchmal wenig schmeichelhaft im Sinne von „unmodern“ verwendet wird. Das sehe ich ausdrücklich anders.
Erstens ist der Grundgedanke, dass die Menschen in der Zivilgesellschaft sich selbst organisieren und sich primär um sich selbst kümmern, hochaktuell. Es ist eben nicht der Staat, der alles regelt, der springt erst in zweiter Linie ein. Das ist unser Leitprinzip. Und zweitens ist daraus immer Innovationskraft entsprungen.
Wie hängen Selbstorganisation und Innovation zusammen?
Ich beginne einmal etwas unorthodox für einen Rotkreuzler mit der Geschichte der AWO. Die Arbeiterbewegung erkämpft sich das Recht, für die eigenen Leute selbst zu sorgen – ein Akt der Emanzipation, der Befreiung. An der Spitze Marie Juchacz, die erste Frau, die im Reichstag gesprochen hat.
Oder nehmen Sie die ZWST, die 1917 als Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden firmierte und dann nach Zwangsauflösung unter der Nazi-Herrschaft im Jahr 1939 als Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland 1951 wieder gegründet wurde. Ein feiner Unterschied in der Benennung – und eine Mahnung. Die ZWST hat ein eigenes Leitbild, das sich aus dem hebräischen Begriff der „Zedaka“, dem sozialreligiösen Verständnis der Wohltätigkeit im Judentum ableitet.
Im wahrsten Sinne des Wortes bewegende Geschichten und Persönlichkeiten haben alle Verbände in petto. Wir haben also einen Sozialstaat, der auf den Verständnissen und Innovationen unterschiedlicher gesellschaftlicher Strömungen beruht – ein Erfolgsmodell.
Wie sieht es mit dem DRK aus?
Das hat natürlich auch seine ganz eigene Geschichte, die auf Henry Dunant zurückgeht. 1921 hat sich das DRK in Deutschland als Wohlfahrtsverband neu gegründet und ist seitdem Teil der Wohlfahrtsfamilie. Das Besondere am DRK war seine ausdrückliche und umfassende Offenheit für alle – unabhängig von Religion, Geschlecht, Herkunft oder Stand. In seiner Entstehungsgeschichte war das DRK dabei eher bürgerlich und adlig geprägt. Interessanterweise spielen Frauen im DRK eine besondere Rolle. Die Gründung ging wesentlich auf „Vaterländische Frauenvereine“ zurück, die sich unterschiedslos um Benachteiligte kümmerten, sich aber immer auch gleichzeitig auf Hilfeleistungen und Unterstützung im Kriegsfall vorbereiteten. Wenn Sie möchten, können Sie in der starken innerverbandlichen Stellung der DRK-Schwesternschaften eine Fortführung der Tradition starker Frauen sehen.
Wie viel ist von den Ursprüngen noch übrig?
Die Geschichten der Verbände sind heute noch spür- und erlebbar. Zusammengenommen repräsentieren die Verbände die Gesellschaft und stehen alle dafür, Unterstützung, Versorgung und Hilfe selbst in die Hand zu nehmen und nicht nach einem sorgenden Staat zu rufen, der alles regelt. Der Fachbegriff dafür ist Subsidiarität: Der Staat springt nur ein, wo es die Menschen und Strukturen vor Ort nicht vermögen.
Sie sagen, die Freie Wohlfahrtspflege sei ein Erfolgsmodell...
Ja, die Freie Wohlfahrtspflege hat mit den Einrichtungen und Diensten einen Unternehmenstypus, der seinesgleichen sucht: Zivilgesellschaftlich verankerte nicht-staatliche Organisationen ohne Profitinteresse erbringen die Leistungen nah bei den Menschen und mit ihnen zusammen. So entstehen Innovationen, die Menschen nützen.
Ich behaupte: Viele Regierungen würden ruhiger schlafen, wenn sie so etwas hätten.
Die EU-Kommission versucht nicht umsonst, ähnliche Modelle in anderen Staaten zu fördern und hat dabei ein Konzept der Sozialunternehmen und der Sozialwirtschaft entwickelt, das möglichst für viele Staaten mit ihren eigenen Traditionen und Konzepten anschlussfähig ist.
Nun sieht es so aus, als würde die Bundesregierung von ihrem bewährten Kurs abweichen und ein neues, unklar definiertes "gemeinwohlorientiertes“ Unternehmertum neben der gemeinnützigen Freien Wohlfahrtspflege etablieren - unter Verweis auf die EU. Dafür entstehen gerade Strategien und Programme auf Bundesebene. Es bleibt nebulös, was sich hinter diesen Vorhaben im Kern verbirgt. Ich habe jedenfalls große Zweifel, dass das alles wirklich im Sinne der Menschen ist. Und in einigen Staaten, die froh wären, wenn sie eine soziale Infrastruktur hätten, die auf gemeinnützigen Organisationen fußt, fasst man sich wahrscheinlich an den Kopf.
Wie zeigt sich die Innovationskraft der Freien Wohlfahrtspflege heute?
Weiterentwicklungen werden ständig betrieben, dafür haben wir auch gute, eingeübte Strukturen und Verfahren in den Verbänden. Wäre das nicht so, sähen Kitas oder Pflegeheime ja auch noch aus wie, sagen wir, 1980.
Und gerade in den letzten Jahren haben wir viel bewegt: Wir veranstalten Wirkungswochen im Verband, um Wirkungsorientierung als Prinzip zu verankern und haben die Social Innovation Community [sic] im DRK etabliert, in der Mitarbeitende mit ihren Ideen ein innovationsfreundliches Umfeld finden. Wir haben digitale Selbstchecks entwickelt, mit dem Verbände bestimmen können, wie digital oder auch wie divers sie sind und welche Maßnahmen möglich wären, um auch nachzubessern. Und als die Bundesregierung in Not war und die Unterbringung von Menschen mit Behinderungen und/oder Pflegebedarf aus der Ukraine organisieren musste, haben wir aus dem Stand die Bundeskontaktstelle (BKS) geschaffen und sind hier völlig neue Wege gegangen. Unser DRK-Elterncampus stimmt zuversichtlich, dass unsere föderale Struktur auch in der heutigen Plattformökonomie bestehen kann.
Kurz: Es gibt einiges, was Hoffnung macht, dass wir die großen, vor uns liegenden Herausforderungen meistern. Allerdings hat das immer auch seinen Preis. Und ich bin mir nicht sicher, ob wir die letzte große Anpassung schon vollständig bewältigt haben.
Welche Anpassungen sind noch unbewältigt?
Die größten Umwälzungen der jüngeren Geschichte erfolgten in den 1990er Jahren mit dem, was wir heute als „Ökonomisierung“ bezeichnen. Die Einführung der Pflegeversicherung, New Public Management, Vergabewettbewerbe wurden als neue Mechanismen etabliert. Alles wurde auf Kosteneffizienz getrimmt. Gleichzeitig sind die sozialen Leistungen immer weiter ausgebaut worden; der soziale Sektor ist heute beschäftigungspolitisch wesentlich bedeutender als die Automobilindustrie. Die Folgen dieser Entwicklungen beschäftigen uns heute intensiv.
Aus Verbänden wurden in kurzer Zeit eben auch Unternehmen, betriebswirtschaftliches Denken und Handeln hielten Einzug. Das war keine Selbstverständlichkeit. Die Idee der damaligen Reformen war ja, dass Märkte mit möglichst vielen gewinnorientierten Anbietern entstehen.
In der Pflege ist das auch passiert, aber die Freie Wohlfahrtspflege hat sich als erstaunlich anpassungsfähig erwiesen und sich „am Markt“ gehalten. Das war und ist Vielen nun auch wieder nicht recht. Es gibt ein deutlich spürbares Misstrauen, gerade wenn Betriebe der Freien Wohlfahrtspflege gut wirtschaften. Und gleichzeitig wird immer wieder suggeriert, die Wohlfahrtspflege sei „öffentlich finanziert“; sie wird dann gerne in den Topf staatlicher Organisationen geworfen, obwohl sie schlicht sozialstaatliche Leistungen erbringt, die vergütet werden. Mit diesen widersprüchlichen Zuschreibungen umzugehen, ist nicht immer einfach. Das gilt auch im Inneren.
Die Verbände bleiben demokratisch verfasst und zivilgesellschaftlich verankert, müssen jedoch dem ökonomischen Druck standhalten, der im chronisch unterfinanzierten sozialen Sektor immer hoch ist.
Hier entstehen Spannungen, die vor allem die Beschäftigten und Verantwortlichen in den Einrichtungen unter Stress setzen.
Was macht Sie optimistisch mit Blick auf die Zukunft?
Die Geschichte der Verbände enthält nicht bloß Anekdoten von anno dazumal. Subsidiarität, Verantwortung und Innovation sind ja bis heute fortgeltende Gestaltungsprinzipien. Und eigentlich hält die Gesellschaft genau damit einen Joker in der Hand, der im Krisenzeitalter spielentscheidend sein kann. Denn die vielen Krisen und Umbrüche werden Härten in der Gesellschaft produzieren. Hier können die Verbände eine zentrale Rolle spielen, um in eine Zukunft zu gelangen, in der die Gesellschaft nicht völlig auseinanderfliegt.
In jeder Krise war die Freie Wohlfahrt sehr präsent. Gerade jetzt wieder in der Aufnahme, Begleitung und Betreuung der Menschen aus der Ukraine, aber auch aus vielen anderen Herkunftsländern.
Wohlfahrtspflege wird also immer gebraucht?
Solange die Menschheit Armut und Elend nicht grundlegend überwindet: Ja. Allerdings kann man aus 150 Jahren Geschichte nicht ableiten, dass auch die nächsten 150 Jahre programmiert sind. Es gibt viel zu tun: Wir müssen selbstkritisch bleiben und uns hinterfragen.
Ich habe vor vier Jahren hier im Blog geschrieben: „Wer sind wir, wer wollen wir sein?“. Das frage ich auch heute noch und glaube, dass wir vor allem die Balance zwischen Sozialwirtschaft und sozialer Verantwortung neu justieren sollten. Ich würde mir wünschen, dass unser Ziel wieder klarer zum Ausdruck kommt: Uns geht es um die Verbesserung der Situation benachteiligter Menschen. Wirtschaftlich verantwortungsvolles Handeln ist Mittel zum Zweck.
Wünschen Sie sich ein bisschen mehr Rückbesinnung?
Klar, gerne. Allerdings bitte nicht im Sinne einer dogmatischen Berufung auf die reine Lehre der geschichtlichen Leitfiguren. Unsere Verbände hat immer ausgemacht, dass sie ein gutes Gespür für die Außenwelt hatten, responsiv und innovativ waren. Das brauchen wir gerade heute mehr denn je. Und zudem haben sich die Verbände in ihrer verwobenen Geschichte immer gegenseitig inspiriert und geprägt. Das ist doch fantastisch. Das lässt sich auch auf andere Akteure übertragen.
Für Kooperation sowie für gegenseitige Inspiration sind wir immer offen und sollten es auch sein.
Mit Blick auf die Freie Wohlfahrtspflege plädiere ich sehr für eine Zusammenarbeit unter den Verbänden, die synergetisch ist und nicht alle Positionen und Haltungen zu einem Einheitsbrei zerkaut. Die Grundlage dafür ist ein enger Austausch und die Anerkennung, dass wir ein gemeinsames Verständnis haben und ein gemeinsames Ziel: Menschen helfen.
Dieses Interview bildet den Auftakt zu unserer Interviewreihe, die von Valeria Mujaes, Referentin Website DRK Wohlfahrtspflege, geführt wird. In den kommenden Monaten werden wir weitere Themen behandeln, wie zum Beispiel Gemeinnützigkeit, die Auswirkungen des Arbeitskräftemangels, Innovationen im Sozialstaat, die Rolle der Wohlfahrtspflege zwischen Markt und Staat, Klimaschutz, Resilienz und Engagement.
Weiterführende Links
- Geschichte der DRK Wohlfahrt
- DRK-Papier: Wie wir in Deutschland arbeiten
- Die DRK-Wohlfahrt: Partnerin für Politik & Gesellschaft