Zwei Kitakinder mit gelben DRK Warnwesten

Wissen - Haltung – Handeln: Armutssensible Praxis in der DRK Kinder-, Jugend- und Familienhilfe

Armut ist ein strukturelles Problem, das nicht nur Sensibilisierung erfordert, sondern auch konkrete Handlungsstrategien. Bildungswissenschaftlerin Anita Meyer teilt mit ihrer langjährigen Expertise wertvolle Einsichten, wie pädagogische Fachkräfte Barrieren abbauen können, um betroffene Familien bestmöglich zu unterstützen.

Sensibilisierung für ein strukturelles Problem

Armut ist in der Bundesrepublik Deutschland ein drängendes gesellschaftliches Thema. Wichtig ist zu verstehen, dass Armut ein strukturelles, gesellschaftlich und politisch verursachtes Phänomen ist auch wenn dieses oft individualisiert wird, indem unterstellt wird, die betroffenen Menschen seien selbstverschuldet in diese Lage geraten.

Tatsächlich lebt ein signifikanter Anteil der Bevölkerung in eingeschränkten finanziellen Verhältnissen: So wachsen annähernd 3 Millionen Kinder und Jugendliche unter Armutsbedingungen auf. Das führt oftmals zu einem begrenzten Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und anderen Ressourcen, was wiederum Chancen auf eine soziale Teilhabe beeinträchtigt. Dabei betrifft Armut besonders Familien mit mehreren Kindern oder Ein-Eltern-Familien (Paritätischer Armutsbericht 2024: Armut in der Inflation).

Vor diesem Hintergrund ist es zentral, dass Einrichtungen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe für die Bedürfnisse von armutsgefährdeten und armutsbetroffenen Familien sensibilisiert sind. Um als Verband einen weiteren Schritt hin zur armutssensiblen Praxis zu gehen, haben wir uns im Rahmen des digitalen Workshops „Armutssensible Praxis" am 12. März 2024 gemeinsam mit rund 60 pädagogischen Fachkräften des DRK zu dem Thema ausgetauscht. Referentin Anita Meyer gibt aus ihrer umfangreichen Tätigkeit zum Thema Armut wichtige Impulse. Gemeinsam mit ihr haben wir in diesem Blogeintrag ein paar Einblicke aus dem Workshop festgehalten, die zur vertieften Auseinandersetzung mit dem Thema einladen.

Wie äußert sich Armut und was bedeutet es, im Alltag, arm zu sein?

Armut ist eine komplexe Lebenslage, die über den bloßen Mangel an finanziellen Mitteln hinausgeht. Kinder und Jugendliche aus armutsbetroffenen Familien erfahren Ausgrenzung, werden beschämt und mit Vorurteilen konfrontiert. Diese Kinder und Jugendliche profitieren weniger von Bildungs-, Freizeit- und Gesundheitsangeboten. Damit fehlen ihnen auch wichtige Erfahrungen von Anerkennung und Selbstwirksamkeit. Ihr Alltag ist oft geprägt von Verzicht und eingeschränkten Gestaltungsspielräumen. 

Gleichzeitig sind diese Kinder und Jugendlichen hoch kompetent, weil sie lernen sich beständig anzupassen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln. 

Praxisbeispiel TeilSein

Einsamkeitsbegleitungen für Kinder in DRK-Einrichtungen

Das Ziel von 'TeilSein' ist es, Kindern und Jugendlichen, die von Armut betroffen sind, Erfahrungsräume zu bieten, in denen sie sich beteiligen und dazugehörig fühlen können. Das präventive Förderprogramm will einerseits für Einsamkeit bei Kindern sensibilisieren und andererseits die Resilienz von Kindern stärken. 

Teilnehmende pädagogische Fachkräfte werden als Einsamkeitsbegleitung qualifiziert. Die Aufgaben umfassen dann pädagogische Aktivitäten, Einzelförderung und Begleitung von Kindern und die Zusammenarbeit mit Eltern. Dieser präventive pädagogische Ansatz möchte frühzeitig Lösungsstrategien vermitteln. Neben der Ausbildung werden ergänzende Angebote zum Thema Einsamkeit zur Verfügung gestellt - darunter ein kostenloses E-Learning. Entwickelt wurde „TeilSein“ vom DRK Landesverband Schleswig-Holstein in Kooperation mit dem Landesverband Thüringen.

Weitere Informationen: 
Projekt TeilSein - DRK LV Schleswig-Holstein

Wie arbeite ich als pädagogische Fachkraft mit armutsbetroffenen Kindern, Jugendlichen und Familien?

Pädagogische Fachkräfte sind sich ihrer bedeutsamen Rolle oftmals wenig bewusst. Dabei sind sie sind eine wichtige Unterstützungsressource für Kinder und Familien, wenn sie wertschätzend, unterstützend und stärkend mit armutsbetroffenen Kindern, Jugendlichen und Familien arbeiten. Das ist gemeint, wenn wir von armutssensiblem Handeln sprechen:

„Armutssensibilität meint die Fähigkeit, in Situationsanalysen Armut in ihrer gesamten Komplexität kritisch reflektierend in den Blick zu nehmen und daraus Handlungen entwerfen, Bildungs- bzw. Beteiligungs- und Hilfeprozesse initiieren und Arbeitsbündnisse eingehen und gestalten zu können.“ (AGJ 2022, S.20f)


Armutssensibilität bedeutet achtsam und wertschätzend zu sein dafür, was es bedeutet, den Familienalltag mit wenig Geld gestalten zu müssen. Achtsam zu sein für die Bedürfnisse von Kindern, Jugendlichen und Familien wie auch ihre Ressourcen und Bewältigungsstrategien. 

Ziel des armutssensiblen Handelns ist es, Zugangshindernisse abzubauen, Selbstwirksamkeitserlebnisse und Teilhabe zu ermöglichen. 

Kinder aus der DRK Kita rennen fröhlich

Grundlegend ist: Jedes Handeln macht aus Sicht der Betroffenen einen Sinn. Eltern haben einen „guten“ Grund und setzen in der Knappheit ihre wenigen Ressourcen so effizient wie möglich ein, auch wenn dieses Vorgehen aus Sicht von anderen wenig nachvollziehbar erscheint. Als Fachkraft ist es an diesen Stellen wichtig, solche Verhaltensweisen nicht vorschnell zu beurteilen, sondern die zugrundeliegenden Handlungsannahmen der Eltern gemeinsam behutsam zu erkunden. 

Für Fachkräfte gilt, die eigenen Vorstellungen und Bilder zu reflektieren und heterogenen Eltern respektvoll zu begegnen.

In der pädagogischen Praxis kann armutssensibles Handeln z.B. bedeuten:

  • Vielfalt positiv zu begegnen,
  • inklusive Spiel- und Lernsituationen zu schaffen,
  • gemeinsame positive Erlebnisse und gegenseitige Anerkennung zu ermöglichen,
  • Ausgrenzung zu erkennen und ihr entgegenzuwirken
  • Sowie Begegnung, Beratung und Information für Eltern anzubieten.


Armutssensibles Handeln erfordert ein umfassendes Verständnis der Lebenswirklichkeit von armutsbetroffenen Familien und ihrer spezifischen Herausforderungen, Ressourcen und Bewältigungsstrategien. Um dieses Verständnis zu entwickeln, benötigen Fachkräfte Wissen zu Armut und Armutsfolgen, eine armutssensible Haltung und müssen daraus ein entsprechendes Handeln ableiten. Dafür ist u.a. ein vertrauensvoller Beziehungsaufbau notwendig, in der Familien und Kinder nicht beschämt und stigmatisiert werden. 

Exkurs

Neue Chancen für Kinder in Deutschland:
Ein Blick auf den Nationalen Aktionsplan

Kinderarmut kann nicht isoliert von gesellschaftlichen Verhältnissen betrachtet werden. Es braucht strukturelle Veränderungen, um Familien aus der Armut herauszuholen und nachhaltig Teilhabe zu ermöglichen. Zu diesem Zweck wird mit dem nationalen Aktionsplan „Kinderchancen in Deutschland“ die EU-Kindergarantie umgesetzt und die Einführung der Kindergrundsicherung als Kernmaßnahme fokussiert.

Als DRK weisen wir darauf hin, dass Individuelle finanzielle Leistungen nur einen Teil einer grundlegenden Unterstützung für Kinder und ihre Familie/ihr Lebensumfeld ausmachen. Um Kinder auf ihrem Weg aus Armutsstrukturen nachhaltig zu begleiten und ihre Chancen langfristig zu erhöhen, ist es wichtig, die Bildungsinfrastruktur weiter auszubauen: Einrichtungen wie Kita, Schule, außerschulische Angebote etc. brauchen Personal, Immobilien und Qualität.​ Um dies zu erreichen, ist neben Geld und Bildungsinfrastruktur eine flächendeckende und auf den jeweiligen Sozialraum abgestimmte soziale Infrastruktur und fokussierte Soziale Arbeit für Familien unabdingbar. 

Weitere Informationen: Neue Chancen für Kinder in Deutschland: Ein Blick auf den Nationalen Aktionsplan

Wie gewährleisten wir Zugänge zu unseren Angeboten für armutsbetroffene und armutsgefährdete Menschen?

Pädagogische Angebote müssen für alle Kinder, Jugendlichen und Familien unabhängig ihrer finanziellen Situation zugänglich sein. Um das gewährleisten zu können, werden armutsgefährdete und armutsbetroffene Menschen beteiligt und ihre Wünsche und Bedürfnisse erfragt. Die Perspektive hilft, Angebote bedarfsgerecht und ansprechend zu gestalten. Zugangs- und Teilhabehürden können so von Anfang an identifiziert und verhindert werden. 

Eine große Hürde ist das Erheben von Teilnahmegebühren. Idealerweise können kostenfreie bzw. vergünstigte Angebote durch beispielsweise sozialräumliche Sponsoren oder alternative Finanzierungsmodelle helfen. So wird verhindert, dass armutsbetroffene Menschen sich beständig beschämenden Situationen ausgesetzt sehen, ihre finanzielle Lage offenlegen zu müssen.

Gerade der unmittelbare Sozialraum bietet als Bildungs- und Lerngelegenheit großes Potential, um den Zugang zu kulturellen und ökologisch nachhaltigen Angeboten zu ermöglichen. Menschen, die als gut vernetzte Multiplikatoren wirken, wie zum Beispiel Stadtteil-Mütter, können dazu beitragen, weitere Teilnehmende für Angebote zu gewinnen und eine breitere Community einzubeziehen.

Praxisbeispiel: Mittendrin

Suppenaktion auf dem Helene-Weigel-Platz

Der DRK Kreisverband Berlin-Nordost e.V. bietet seit mehr als vier Jahren eine monatliche Suppenaktion im Berliner Bezirk Marzahn. Das ehrenamtliche Projekt wurde zu Beginn der Corona-Pandemie gestartet, doch der Bedarf ist immer noch hoch. Mittlerweile wurden im Rahmen der Aktion mehr als 18000 Portionen warmes Essen verteilt und knapp 5000 Stunden ehrenamtliche Arbeit geleistet.

Neben einer heißen Suppe und gespendeten Lebens- und Hygienemitteln ist die Aktion auch ein Knotenpunkt für weitere bedarfsgerechte Hilfsangebote des DRK. Bürgerinnen und Bürger haben hier niedrigschwellig die Möglichkeit, die Kleiderkammer zu nutzen, die Sozialberatung in Anspruch zu nehmen und mehr über Angebote wie die Familien-, Nachbarschafts- oder Jugendzentren des Kreisverbandes zu erfahren. 

Weitere Informationen gibt es hier: 
Suppen-Aktion auf dem Helene-Weigel-Platz - DRK KV Berlin-Nordost e.V.

Anita Meyer
Anita Meyer ist Bildungswissenschaftlerin (M.A.) & Diplom Sozialpädagogin (FH) mit einem Fokus auf soziale Herausforderungen wie Armut und Inklusion.

Fazit

Armut muss grundsätzlich gesellschaftlich und politisch bearbeitet werden. Gleichzeitig benötigen betroffene Kinder, Jugendliche und Familien jetzt eine achtsame und wertschätzende Begleitung und Unterstützung.

Armutssensibles Handeln von Fachkräften umfasst stets den Dreiklang von Wissen - Haltung - Handeln.