Zwar lassen sich die langfristigen Auswirkungen der Pandemie auf die Einkommens- und Reichtumsentwicklung in der Gesellschaft zum jetzigen Berichtszeitpunkt nur unzureichend abbilden. Allerdings lassen der spürbare konjunkturelle Abschwung und die individuellen Einkommensverluste sowie der Anstieg bei Kurzarbeit und die Entwicklung in der Arbeitslosenstatistik erahnen, dass die Turbulenzen der Pandemie sich auch entsprechend in einer vollständigen Berichterstattung widerspiegeln müssten.
Auch wenn der vorliegende Bericht vor diesem Hintergrund also nur einen Teil der Realität abbildet, so zeigen die beobachtbaren Trends und vorliegenden Auswertungen dennoch, wie fragil die sozioökonomische Stabilität Deutschlands ist und welche Faktoren sie beeinflussen. Aus Sicht des DRK ergeben sich in zentralen Punkten klare Handlungsbedarfe.
Zuversichtliche Arbeitsmarktdaten, jedoch strukturelle Langzeitarbeitslosigkeit
Die Arbeitslosenzahl sank in den vergangenen Jahren kontinuierlich – dieser Trend wurde durch die Covid-19-Pandemie erwartbar gestoppt und umgekehrt. Mittel- bis langfristig ist jedoch neben einem Wiedererstarken der Wirtschaft auch mit einer Belebung des Arbeitsmarktes zu rechnen.
Auch der zu beobachtende Rückgang von Langzeitarbeitslosigkeit ist angesichts des langfristigen Vergleichs zu den Vorjahren erfreulich. Angesichts des im Jahresdurchschnitt 2020 mit 817.000 Personen angegebenen Anteil an Langzeitarbeitslosen und die damit verbundene Quote von 30,3 Prozent an allen Arbeitslosen zeigt jedoch, welche strukturellen Herausforderungen Langzeitarbeitslosigkeit mit sich bringt. Eine weitere Verschärfung durch die Covid-19-Pandemie steht zudem zu befürchten.
Erfreulich ist hingegen der quantitative Rückgang sowohl der ALG I-Beziehenden als auch der Mindestsicherungsbeziehenden: Ende des Jahres 2019 lagen diese bei nur noch 3,7 bzw. 6,9 Millionen Personen. Besorgniserregend jedoch bleibt, dass damit statistisch gesehen 8,3 Prozent der Bevölkerung auf unterstützende finanzielle Leistungen des Staates angewiesen sind.
Lösungen?
Neben einer gesetzlichen Reform der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) und damit einhergehenden Verbesserungen bei der Förderung von Arbeitsuchenden sind dringende weitere politische Anstrengungen notwendig, um Arbeitslosigkeit in seinen vielfältigen Formen zu begegnen. Neue und gezielt anzuwendende Förderinstrumente für Langzeitarbeitslose etwa können erste Hebel sein, um eine sukzessive Wiedereingliederung zu ermöglichen. Darüber hinaus braucht es den notwendigen Paradigmenwechsel, dass Qualifizierung und Kompetenzentwicklung dort, wo notwendig, vorrangig gegenüber der kurzfristigen Arbeitsvermittlung gefördert müssen.
Ziel sämtlicher Maßnahmen zur Bekämpfung von existentiellen Notlagen und (Langzeit-)Arbeitslosigkeit muss es sein, bestehende Angebote auszubauen und die Betroffenen aus eigenen Mitteln heraus zur gesellschaftlichen Teilhabe zu befähigen.
Der Wohlstand wächst – die Armut auch
Den Analysen des Berichts zufolge steigen Einkommen und Wohlstand in der Gesellschaft zwar kontinuierlich weiter an. Allerdings partizipieren an diesem Anstieg nicht alle: während das Vermögen im mittleren Einkommensbereich steigt, partizipieren Haushalte mit niedrigen Einkommen kaum bis gar nicht. Die relative Armut in Deutschland steigt somit dem allgemeinen zu beobachtenden Trend entgegen weiter an. Auch zeigen die Daten, dass von Armut betroffene Menschen häufig (lange) in Armut verbleiben und langfristig an der damit verbundenen sozialen Stigmatisierung leiden.
Insgesamt ist beim Blick auf die Datenbasis des Berichts eine deutliche langfristige Verschärfung der sozialen Ungleichheit zu beobachten. Diese Entwicklung wird jedoch häufig nur unzureichend klar angesprochen und auch die verwendeten sprachlichen Labels (etwa die Streckung von Armut auf „prekäre Lebensverhältnisse“, Untererfassung von Reichtum und Relabeling „Wohlhabenheit“) verwässern diesen klaren Befund.
Mit dieser sozialen Polarisierung geht dem Bericht zufolge auch eine Verfestigung der sozialen Lagen in Deutschland einher. Dies gilt insbesondere für die besonders reichen (bzw. „wohlhabenden“) und armen Haushalte und ihren prozentualen Anteil am gesellschaftlichen Gesamteinkommen und -vermögen. Unmittelbar verknüpft mit diesem Befund ist auch der Aspekt der sozialen Mobilität. Während es mittleren und höheren sozialen Lagen häufig aus eigenen Ressourcen heraus möglich ist, sozial aufzusteigen, bleibt das Erwachsen aus Armut unteren sozialen Lagen mehrheitlich verwehrt. Sozialer Abstieg hingegen ist ein Phänomen, von dem potentiell alle sozialen Lagen bedroht sein können.
Lösung?
Zwar ist nicht jeder arme Mensch überschuldet, doch rutschen ver- und überschuldete Menschen überaus häufig in Armut ab. Ein universeller Anspruch auf professionelle Schuldnerberatung – unabhängig eines bestehenden Sozialleistungsbezugs – stellt ein wichtiges Instrument dar, um Armut effektiv bekämpfen und bereits frühzeitig in ihrer Entstehung zu verhindern. Begleitet werden muss dieser individuelle Anspruch darüber hinaus mit einer bundesweiten finanziellen Stärkung und dem geförderten Ausbau von Schuldnerberatungsstellen als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge.
Wie viel ich habe, bestimmt wer ich bin: Einkommen und soziale Lage
Das in den erhobenen Daten zugrunde gelegte Nettoäquivalenzeinkommen zeigt einen kontinuierlichen Anstieg von bis zu 3,5 Prozent über die letzten Jahre und bilanziert eine gute Wirtschaftsentwicklung Deutschlands.
Als Ursache für die positive Einkommensentwicklung verweist der Bericht auf die durch gute Bildung möglichen sozialen Aufstiegschancen. Dabei wird jedoch unzureichend darauf eingegangen, dass dieses Potential jedoch unverhältnismäßig stark durch die soziale Herkunft geprägt und „der eigene Bildungserfolg (doch) weiterhin in engem Zusammenhang mit Bildungshintergrund und Einkommen der Eltern“ steht.
Es braucht den dringenden politischen Willen, um Zugang zu Bildung und aus Bildungserfolg resultierenden Chancen nicht (noch stärker) zum Produkt der familiären Voraussetzungen und sozialen Rahmenbedingungen werden zu lassen. Echte Bildungsgerechtigkeit muss unabhängig von sozialer Herkunft möglich sein und allen Schülerinnen und Schülern eine gleichberechtigte Chance gewährleisten.
Wessen Kind ich bin: Die Frage der sozialen Mobilität
Die soziale Herkunft der Elterngeneration und damit verbunden die finanzielle Ausstattung des Elternhauses spielt in Deutschland nach wie vor eine (zu) große Rolle bei der Frage der sozialen Mobilität von Kindern. Dieser Zusammenhang zeigt, wie stark sich soziale Strukturen verfestigen (können) und dass die für sozialen Aufstieg verbundene Chancen nicht allen Kindern offenstehen, insbesondere da soziale Herkunft auch die individuelle Bildung maßgeblich beeinflussen. Bereits die soziale Lage selbst wird maßgeblich von der ökonomischen Situation des Elternhauses bestimmt. Dass hieraus und über den daraus folgenden Bildungsfolgen auch das soziale Aufstiegspotential maßgeblich abhängt, überrascht entsprechend nur wenig.
Lösungen?
Ohne den klaren politischen Willen für notwendige Investitionen in Bildung und die Verwirklichung gleichberechtigter Bildungszugänge für alle Kinder droht eine sich weiterhin zu verfestigende soziale Ungleichheit, die bereits im Kinder- und Jugendalter definiert und gesellschaftliche Partizipation konterkariert. Eine inklusive und sozial gerechte Bildungspolitik muss dabei den Anspruch erheben, soziale Unterschiede zu beseitigen und bestehende Hürden nicht noch weiter zu reproduzieren.
Die Angebote der Freien Wohlfahrtspflege in den Bereichen Migration & Integration sowie der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe bieten bereits heute wichtige ergänzende Angebote bei Förderung von sozial schwächeren Familien und der Befähigung von Kindern und Jugendlichen – sie bedürfen der weiteren finanziellen Förderung und des gezielten Ausbaus
Die bestehenden Angebote müssen politisch gestärkt und flächendeckend gefördert werden. Eine ganzheitliche auf soziale Partizipation und Bildungsförderung ausgelegte Familien- und Bildungspolitik können jedoch auch die subsidiär ausgelegten Angebote der Freien Wohlfahrtspflege nicht auffangen.
Zusammen ist man weniger allein: Zur Bedeutung von Daseinsvorsorge
Die ungleiche Verteilung von Reichtum zeigt sich zuletzt nicht ausschließlich nur in der materiellen Ausstattung, sondern auch in der praktischen und sozialräumlichen Lebenswirklichkeit von Menschen. Dabei ist klar zu betonen, dass der regionalen und sozialräumlichen Infrastruktur aufgrund der alltäglichen Lebenswirklich eine herausragende Bedeutung zukommt.
In diesem Kontext kommt unter anderem dem sozialen Ehrenamt eine wichtige Rolle bei der Verwirklichung von Daseinsvorsorge vor Ort zu. Die Incentivierung von gesellschaftlichem Ehrenamt birgt wichtiges Potential, um die bestehende soziale Infrastruktur zu stärken und zwischenmenschliche Begegnungen und Kontakte vor Ort zu fördern.
Die Relevanz sozialer Angebote und Einrichtungen für hilfesuchende Personen und die Rolle, die etwa die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege mit ihren Angeboten bei der Begegnung sozialer Ungleichheiten einnehmen wird auch im Bericht deutlich: „All diese Einrichtungen und Dienstleistungen fungieren nicht nur als Versorgungsträger, sondern sie schaffen zugleich Orte und Gelegenheiten für Begegnung. Sie erhöhen die Lebensqualität und auch den Lebensstandard und tragen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei.“
Weitere Informationen zum Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung können Sie hier abrufen: https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Bericht/armuts-und-reichtumsbericht.html;jsessionid=14B7751809F22BF354988844194ABC47
Den aktuell vorliegenden Berichtsentwurf finden Sie hier: https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/SharedDocs/Downloads/Berichte/entwurf-sechster-armuts-reichttumsbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=3