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Vorschläge zur Kompetenzerweiterung der beruflichen Pflege bleiben weit hinter den Erwartungen zurück

Die bereits in dem Eckpunktepapier der Bundesregierung aufgeworfenen - und im Rahmen des Arbeitsentwurfes für ein Pflegeversicherungsreformgesetz ausformulierten Kompetenzerweiterungen der Pflegefachberufe wurden nun als Änderungsanträge an das Gesetzesverfahren des Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetzes (GVWG) "angehängt". Diese sogenannte Omnibusmethode soll anscheinend die noch ausstehenden Wahlversprechen des Koalitionsvertrages auf den buchstäblich letzten Metern einlösen. Allerdings gehen die darin enthaltenen Maßnahmen unserer Ansicht nach in eine völlig falsche Richtung, weshalb wir vor einem übereilten Gesetzgebungsverfahren nur warnen können. Im folgenden soll dies für die Kompetenzerweiterungen der Pflegefachberufe exzerpiert werden.

ÄA bleiben weit hinter den Erwartungen zurück

Das Deutsche Rote Kreuz würdigt ausdrücklich den politischen Willen der Bundesregierung, die Kompetenzen und Befugnisse von Pflegefachpersonen gemäß den Beratungen, in dem aus der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) hervorgehenden Strategieprozess zur interprofessionellen Zusammenarbeit, zu erweitern. Gerade was die Stärkung der ambulanten Akut- und Langzeitpflege betrifft.

Gleichwohl denken wir im Hinblick auf die Umsetzung der in den Änderungsanträgen zum GVWG vorgeschlagenen Maßnahmen, dass das Potential des auch heute bereits Möglichen nicht vollends ausgeschöpft wurde. Insofern bleiben die vorliegenden Änderungsanträge weit hinter den Erwartungen des DRK zurück, das sich aktiv an dem Strategieprozess zur interprofessionellen Zusammenarbeit beteiligt hat. 

Wir sehen daher einen weiteren Handlungsbedarf, um die Versorgungszugänglichkeit und -kontinuität des hiesigen Gesundheits- und Pflegewesens wirkungsvoll und nachhaltig zu erhöhen. Aber auch die Pflegeprofession insgesamt zu stärken, indem die Fachlichkeit der Berufsangehörigen ernst genommen wird, und sich in einer kompentenzorientierten Eigenverantwortung wiederfindet.

Im einzelnen bezieht sich unsere Kritik auf folgende Aspekte

Artikel 1 ÄA Nr. 3: Blankoverordnung für die häusliche Krankenpflege

  • Die „Blankoverordnung“ für die die häusliche Krankenpflege unterliegt weiterhin einem ärztlichen Verordnungsrahmen, in dem dafür qualifizierte Pflegefachpersonen lediglich Häufigkeit, Dauer und Ausgestaltung folgender Leistungen bestimmen können: Positionswechsel Dekubitus, An- oder Ausziehen von Kompressionsstrümpfen, sowie das An- oder Ablegen eines Kompressionsverbandes.

  • Es wird weiterhin eine Verordnung des Vertragsarztes benötigt, um diese Leistungen in Anspruch nehmen zu können. Was weder die Barrierefreiheit verbessert, noch die Betroffenen entlastet. Gleichzeitig ist der Aufwand an Kommunikation und Koordination der Pflegedienste für diese vergleichsweise risikoarmen Tätigkeiten unverhältnismäßig hoch, da hiermit umfangreiche Berichtslegungen an die Vertragsärzte verbunden sind; was ebenso auf die Vorschriften zur Evaluation der HKP-Maßnahmen zutrifft.

  • Wir fordern daher zumindest die Ausweitung der verordnungsfähigen Maßnahmen auf alle nicht-pharmakologischen HKP-Leistungen, sowie eine Minimierung der Rückkopplungspflichten mit den Vertragsärztinnen und -ärzten.

Artikel 1 ÄA Nr. 5: Verpflichtende Durchführung von Modellvorhaben zur Übertragung ärztlicher Tätigkeiten

  • Positiv hervorzuheben ist zunächst die Möglichkeit zur Verstetigung von erfolgreichen Modellprojekten in die Regelversorgung, die Entwicklung von Standards für die interprofessionelle Zusammenarbeit, die Schaffung von einheitlichen Vorgaben zur Abrechnung und Wirtschaftlichkeit, sowie ein klares Bekenntnis zur Substitution ärztlicher Leistungen.

  • Allerdings basieren die Regelungen zu den verpflichtenden Modellvorhaben zur Übertragung ärztlicher Tätigkeiten weiterhin auf den Vorschriften nach § 63 Abs. 3b und 3c, die sich bislang vor allem als Innovationsbremsen hervorgetan haben. Doch auch, wenn über die Verpflichtung der Krankenkassen nun mehr Modellprojekte in den Bundesländern entstehen würden, bleiben die bisherigen, mit diesen Rechtsvorschriften verbundenen Probleme bestehen (vgl. Hener 2016). Insbesondere in Bezug auf die Engführung der übertragbaren Aufgaben nach der Heilkundeübertragungsrichtlinie des G-BA, die zudem dringend aktualisiert werden müsste, gerade auch vor dem Hintergrund des PflBG und der damit verbundenen hochschulischen Primärausbildung in der Pflege.

  • Insofern fordern wir, dass die verpflichtenden Modellvorhaben zur Übertragung ärztlicher Tätigkeiten nach § 64d SGB V auch unabhängig von den Regelungen in § 63 SGB V bestehen können und darüber hinaus auf maximal 2 Jahre befristet werden, um die Überführung in die Regelversorgung zu beschleunigen.

Artikel 2 ÄA Nr. 8: Empfehlung von einfachen und doppelfunktionalen Hilfsmitteln

  • In einer Art Genehmigungsfiktion sollen die Kranken- und Pflegekassen von der Notwendigkeit bzw. Erfordernis einfacher und doppelfunktionaler Hilfsmittel ausgehen, wenn diese durch dafür qualifizierte Pflegefachpersonen im Rahmen der ambulanten Akut- und Langzeitpflege empfohlen werden.

  • Im Gegensatz zu der Blankoverordnung für die häusliche Krankenpflege ist hierbei keine ärztliche Verordnung mehr notwendig, was wir ausdrücklich begrüßen. Allerdings sollen die Indikationen für die Notwendigkeit bzw. Erfordernis durch den GKV-SV festgelegt werden, sodass noch abzuwarten bleibt, ob sich diese Regelung letztlich in der Praxis bewähren kann.

  • Gleichzeitig handelt es sich bei den hier vorgeschlagenen Regelungen um keine Genehmigungsfiktion im eigentlichen Sinne, da die Entscheidungsfrist über den Antrag bis zu drei Wochen beträgt.

  • Wir fordern daher die Beschleunigung dieses Verfahrens durch eine echte Genehmigungsfiktion, für Indikationen, bei denen die Notwendigkeit bzw. Erfordernis mit einer hohen Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Diese gilt es in der entsprechenden GKV-RL zu hinterlegen.

Kein "Weiter so" im Klein-Klein des Leistungsrechts

Die Wirksamkeit und Effektivität von Pflegenden mit erweiterten Kompetenzen und Befugnissen, die im anglo-amerikanischen Raum auch als Advanced Practice Nurses bezeichnet werden, wurde in einer Vielzahl internationaler Good Practice Beispiele (z.B. Schaeffer et al. 2015 & Schaeffer et al. 2020) und methodisch hochwertigen Studien (u.a. Laurant et al. 2018, Matthys et al. 2017, Weeks et al. 2016, Martinez-Gonzalez et al. 2014, Health Quality Ontario 2013 & Bhanbhro et al. 2011) beschrieben. 

Gleichzeitig hat die aktuelle pandemische Lage die Verletzlichkeit unseres Gesundheits- und Pflegesystems offenbart, gerade in der Langzeitpflege. Vor diesem Hintergrund erscheint dem DRK ein „Weiter so“ im Klein-Klein des deutschen Leistungsrechts nur wenig zielführend, um die Pflegeberufe kompetenzorientiert weiterzuentwickeln und international anschlußfähig zu machen. Denn im Vergleich mit den anderen OECD Ländern hinken wir hierzulande in der Pflegeberufspolitik deutlich hinterher.

Stärkung der beruflich Pflegenden heißt Stärkung der Versorgung

In den USA wurden bereits in den 1950er Jahren Public Health Nurses eingeführt (Hamric et al. 2013), aus denen sich im Laufe der Zeit eine Vielzahl an erweiterten und spezialisierten Pflegerollen herausgebildet haben, beispielsweise Nurse Practitioner oder Community Health Nurses, die heute eine tragende Säule des dortigen Versorgungssystems einnehmen. 

In Deutschland haben wir dagegen bis heute lediglich erreicht, dass die Aufgaben im Rahmen des Pflegeprozess den Pflegefachberufen vorbehalten sind, und dass Pflegefachfrauen und -männer im europäischen Ausland nicht mehr als Hilfs- sondern Fachkräfte anerkannt werden.

Dies ist aus Sicht des Deutschen Roten Kreuzes allerdings zu wenig, angesichts der großen Herausforderungen, denen wir uns auch außerhalb von pandemischen Lagen gegenübersehen. Beispielsweise der Fachkräftemangel auf dem Arbeitsmarkt, die prognostizierten Bedarfssteigerungen in der medizinisch-pflegerischen Versorgung, sowie den fachlich immer komplexer werdenden Pflege- und Betreuungssituationen in den Krankenhäusern, Einrichtungen und Diensten.

Vor dem Hintergrund der Idee für ein „Gesamtkonzept Gesundheitsfachberufe“ setzen wir uns daher nachdrücklich für die Ablösung der Modellvorhaben nach § 63 Abs. 3b und 3c SGB V durch ein Heilkundegesetz auf der Bundesebene ein, in dem die heilkundlichen Kompetenzen und Befugnisse für alle Gesundheitsfachberufe verbindlich und rechtssicher geregelt werden.

Hierzu könnten beispielsweise folgende Aufgaben im Rahmen des Plegeprozesses gehören

Gesundheitsförderung und Prävention

  • Maßnahmen der Verhaltens- und Verhältnisprävention sowie salutogene Interventionen im lokalen Sozialraum

  • Populationsbezogene Angebote der Gesundheitsedukation, z.B. in Kindertagesstätten, an Schulen, am Arbeitsplatz, in der Erwachsenenbildung (z.B. Volkshochschulen) usw.

  • Aufsuchende Angebote für besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen jeden Alters, z.B. Menschen mit chronischen Erkrankungen, mit Pflegebedarf, mit Behinderung, ohne Aufenthalt, in Armut, ohne Wohnung usw.

Pflegerische Heilkunde

  • Substitution von pflegenahen, originär ärztlichen Tätigkeiten, z.B. Wundversorgung, Verlaufskontrolle, Therapiemonitoring und -modifikation, Ernährungsmanagement

  • Direkte Versorgung spezifischer Populationen (nach Altersgruppen oder Fachgebieten) auf der Grundlage von evidenzbasierten Behandlungsprotokollen

  • Niedrigschwellige Gesundheitsangebote in Form der Behandlung von stabilen chronischen und leichten akuten Erkrankungen

  • Durchführung von Schutzimpfungen nach den STIKO-Empfehlungen, wie auch von einfachen Screenings, sowie sozialmedizinischer Testdiagnostik

Care- und Casemanagement

  • Sozialmedizinisches Assessement

  • Gesundheits- und Pflegeberatung

  • Beantragung von Leistungender Sozialversicherungsträger

  • Zu- und Einweisung von/zu Versorgungsangeboten

  • Unterstützung bei der Suche nach einem Therapie- Behandungs- oder Pflegeplatz

Verschreibung und Verordnung

  • (Folge-)Verschreibung von fest definierten Wirkstoffgruppen mit Pflegebezug, z.B. Antidiabetika, Analgetika, Antihypertensiva, Diuretika oder Insulinen

  • Verordnung (bzw. Beantragung) von pflegebezogenen Heilmitteln (Ergo, Logo, Physio), sowie einfachen und doppelfunktionalen Hilfsmitteln (Inkontinenzmaterial, Verbrauchsmaterialien, technische Hilfsmittel)

  • Verordnung (bzw. Beantragung) eines Pflegegrads, sowie häuslicher (Kranken-)Pflege, Entlastungsleistungen, haushaltsnaher Dienste

  • (Folge-)Krankschreibung für bestimmte ICD-Diagnosen

Quellen

Bhanbhro, S., Drennan, V. M., Grant, R., & Harris, R. (2011). Assessing the contribution of prescribing in primary care by nurses and professionals allied to medicine: a systematic review of literature. BMC health services research, 11(1), 1-10.

Hamric, A. B., Hanson, C. M., Tracy, M. F., & O'Grady, E. T. (2013). Advanced Practice Nursing: An Integrative Approach. Elsevier Health Sciences.

Health Quality Ontario. (2013). Specialized nursing practice for chronic disease management in the primary care setting. Ontario health technology assessment series13(10), 1.

Hener, C. (2016). Advanced Practice Nursing. Narrative Rollenentwicklung. Pflege Zeitschrift69(12), 749-753.

Laurant, M., van der Biezen, M., Wijers, N., Watananirun, K., Kontopantelis, E., & van Vught, A. J. (2018). Nurses as substitutes for doctors in pc. Cochrane Database of Systematic Reviews, (7).

Martínez-González, N.A., Djalali, S., Tandjung, R. et al. Substitution of physicians by nurses in primary care: a systematic review and meta-analysis. BMC Health Serv Res 14, 214 (2014).

Matthys, E., Remmen, R., & Van Bogaert, P. (2017). An overview of systematic reviews on the collaboration between physicians and nurses and the impact on patient outcomes: what can we learn in primary care? BMC family practice, 18(1), 1-22.

Schaeffer, D., Hämel, K., & Ewers, M. (2015). Versorgungsmodelle für strukturschwache und ländliche Regionen. Erfahrungen aus Finnland und Kanada.

Schaeffer, D., & Hämel, K. (2020). Kooperative Versorgungsmodelle. In Handbuch Gesundheitssoziologie (pp. 463-480). Springer VS, Wiesbaden.

Weeks, G., George, J., Maclure, K., & Stewart, D. (2016). Non‐medical prescribing versus medical prescribing for acute and chronic disease management in primary and secondary care. Cochrane Database of Systematic Reviews, (11)