Mädchen mit Katze in Unterkunft
Bewaffneter Konflikt in der Ukraine: Geflüchtete Frauen und Kinder in einer Turnhalle in Lublin, die vom Polnischen Roten Kreuz in eine Unterkunft umgewandelt wurde.

Trauma & Flucht - Begleitung in der Kinder & Jugendhilfe

Im Interview mit Diplom-Psychologin Esther Kleefeld versuchen wir uns den Herausforderungen von Flucht und Trauma in der Lebenswelt von Kindern- und Jugendlichen anzunähern. Wie können Fachkräfte aus Kita, Jugendhilfe, Schulsozialarbeit und den Freiwilligendiensten dabei begleiten? Worauf sollten sie achten? Und wie kann man Trauma erkennen?

Dieses Interview mit Frau Kleefeld entstand im Kontext unserer ausgebuchten "Digitalen Schulung „Trauma & Flucht - Begleitung in der Kinder & Jugendhilfe“ (28.09.2023).

Liebe Frau Kleefeld welchen beruflichen Hintergrund haben Sie?

Ich bin Diplom-Psychologin und arbeite freiberuflich in eigener Praxis als Therapeutin, Beraterin, Supervisorin und Dozentin. Meine Arbeitsschwerpunkte sind Leben und Arbeiten in interkulturellen Kontexten sowie Umgang mit Stress, Belastungen und Traumata. Durch meine langjährige Tätigkeit als Psychotherapeutin bei XENION, einem psychosozialen Behandlungszentrum für Geflüchtete in Berlin, verfüge ich über umfangreiche Expertise in der Arbeit mit hochbelasteten und vielfach traumatisierten Menschen, insbesondere auch in der kultursensiblen und dolmetschergestützten Arbeit.

Welche spezifischen traumatischen Erfahrungen erleben Kinder und Jugendliche, die auf der Flucht sind oder waren?

Geflüchtete Kinder und Jugendliche bringen oft eine Vielzahl traumatischer Erfahrungen mit. Diese variieren je nach den Umständen der Flucht, dem Herkunftsland, dem Fluchtweg und anderen individuellen Faktoren. Zu den häufigsten traumatischen Erfahrungen gehören 

  • Krieg und bewaffnete Konflikte: Kinder und Jugendliche, die aus Kriegsgebieten fliehen, waren oft direkt mit Gewalt, Bombardierungen, Kämpfen und Zerstörung konfrontiert, haben diese am eigenen Leib erlebt oder waren Zeuge davon. 
  • Verlust und Trennung: fast alle geflüchteten Kinder und Jugendlichen haben wichtige Bezugspersonen wie Freunde und Familienangehörige verloren oder wurden von ihnen getrennt.
  • Gewalt und Missbrauch: Kinder und Jugendliche sind besonders verletzlich und erleben vor oder während der Flucht häufig körperliche, sexuelle oder emotionale Gewalt.
  • Gefahren auf der Flucht: Je nach Fluchtroute und -dauer erleben junge Menschen auf der Flucht Hunger, Durst, Kälte und mangelnde medizinische Versorgung,

Wie kann das Erleben von Trauma z.B. während einer Flucht die langfristige Entwicklung und das Verhalten von jungen Menschen beeinflussen? Gibt es eine Unterschied zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen?

Das Erleben von traumatischen Ereignissen kann erhebliche Auswirkungen auf die langfristige Entwicklung und das Verhalten junger Menschen haben. Diese Auswirkungen unterscheiden sich je nach Alter, da Kinder und Jugendliche unterschiedliche Entwicklungsstadien durchlaufen. Auch individuelle Unterschiede in Persönlichkeit und Ressourcen spielen eine Rolle dabei, wie stark und in welcher Weise traumatische Erlebnisse die Entwicklung und das Verhalten beeinflussen.

Häufige Traumafolgen bei Kindern und Jugendlichen sind

  • Ängste und Aggressivität: Kinder könnten Ängste entwickeln, die mit den traumatischen Ereignissen zusammenhängen, wie Trennungsangst, Albträume oder Angstzustände ohne ersichtlichen Grund. Häufig kommt es in der Folge traumatischer Erlebnisse auch zu aggressivem Verhalten, Wutanfällen oder anderen Verhaltensauffälligkeiten.
  • Oft kommt es gerade bei Jugendlichen auch zu Selbstaggression in Form von Selbstverletzendem Verhalten und/oder lebensmüden Gedanken bis hin zu Suizidversuchen.
  • Schwierigkeiten in Beziehungen: Trauma kann das Vertrauen und die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen, beeinträchtigen. Kinder könnten Schwierigkeiten haben, emotionale Bindungen einzugehen, manche verstecken sich, sprechen nicht. Oder das Gegenteil ist zu beobachten: Kinder sind distanzlos, suchen wahllos (Körper-) Kontakt.
  • Entwicklungsverzögerungen oder Regression: Traumatische Erfahrungen können die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung von Kindern beeinträchtigen und zu Verzögerungen führen. Manchmal kommt es auch zu Entwicklungsrückschritten, Kinder nässen wieder ein, sprechen „Babysprache“, o.ä.
  • Entwurzelung und Identitätsprobleme: Das Verlassen der Heimat und die Anpassung an eine neue Kultur können zu Identitätskonflikten und einem Gefühl der Entfremdung führen in der Adoleszenz, da die Identitätsentwicklung eine wichtige Aufgabe des Erwachsenwerdens ist.
  • Risikoverhalten: Jugendliche könnten zu riskantem Verhalten neigen, um Erinnerungen an traumatische Erlebnisse zu vermeiden, wie z. B. Drogenmissbrauch, Alkoholkonsum oder riskante sexuelle Aktivitäten.
  • Hinzu kommen oft Schlafstörungen, Alpträume, Gedankenkarusselle und Konzentrationsschwierigkeiten, was sich wiederum negativ auf die schulische Leistung auswirken kann

Was ist wichtig zu beachten um traumatisierten Kindern und Jugendlichen nach der Flucht als Pädagogische Fachkraft zu unterstützen?

Traumafolgesymptome bedeuten dauerhaft erhöhten Stress. Das bedeutet, dass alles, was wir tun, darauf abzielt, den Stress zu reduzieren. In meiner Erfahrung haben sich folgende Haltungen und Vorgehensweisen bewährt.

  • Zeit und Geduld mitbringen - „aus-halten“ können: Unsere Unterstützungsangebote sind meist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Oft geht es weniger um konkretes Handeln als vielmehr darum, gemeinsam auszuhalten, dass im Moment (noch) nicht viel getan werden kann. Gerade dann ist es enorm wichtig, weiterhin verlässliche Unterstützung anzubieten, Kontinuität herzustellen („da sein“).
  • Wertschätzende Grundhaltung und Beziehungsangebot: Junge Geflüchtete haben sehr oft Schwierigkeiten, Vertrauen aufzubauen. Sie schwanken zwischen Hilfsbedürftigkeit und Misstrauen. Um Vertrauen aufzubauen, braucht es manchmal viel Geduld, aber auch eine klare Haltung und Transparenz. Anfängliches Misstrauen ist oft nicht auf die unterstützende Person, sondern auf negative Vorerfahrungen zurückzuführen und im Sinne eines Schutzmechanismus zu verstehen.
  • Respektvolle Neugier statt „Wissen“: Eine Haltung respektvoller Neugier ermöglicht es, vieles zu erfragen, ohne voreilige Schlüsse zu ziehen und sich nicht vorschnell auf eine Handlungsoption festzulegen oder diese gar vorzugeben. Bedürfnisse, Probleme und auch Lösungsideen können und sollten immer erfragt werden.
  • Klare Strukturen und Berechenbarkeit: Orientierung, Strukturierung des Alltags, Partizipation und Vorhersehbarkeit sind das Gegenteil von willkürlichen, unvorhersehbaren traumatischen Erlebnissen, denen man hilflos ausgeliefert ist. Als solche stellen sie eine korrigierende Beziehungserfahrung dar.
  • Mehr hilft mehr: Eltern, Familie, weitere Bezugspersonen mit einbeziehen und bei Bedarf auch weitere professionelle Unterstützung hinzuziehen.
  • Selbstfürsorge: Bei all dem gilt: Selbstfürsorge geht immer vor! Die Unterstützung traumatisierter Kinder und Jugendlicher kann sehr herausfordernd und belastend sein. Um langfristig helfen zu können, ist es notwendig, immer auch die eigenen Grenzen und die eigene Gesundheit im Blick zu haben.

Wie kann man erkennen, ob ein Kind oder Jugendlicher traumatisiert ist?

Grundsätzlich kann man es nie mit Sicherheit wissen. Alle Traumafolgesymptome können auch andere Ursachen haben. Dennoch gibt es Anzeichen, die, besonders wenn sie in Kombination auftreten, darauf hinweisen, dass ein Kind oder ein Jugendlicher traumatische Erfahrungen gemacht hat. Als Unterstützende ist es hilfreich, diese richtig einordnen zu können, um Missverständnisse und Konflikte zu vermeiden und wirksam helfen zu können. Traumatisierte Kinder und Jugendliche

  • haben oft körperliche Symptome wie Bauch-, Kopf oder andere Schmerzen, ohne medizinische Ursache,
  • leiden unter Appetitlosigkeit und Schlafstörungen
  • weinen häufig
  • sind hysterisch und panisch
  • sind aggressiv
  • klammern sich an Bezugspersonen
  • scheinen verwirrt und orientierungslos
  • wirken abwesend, sehr ruhig und fast bewegungslos, bzw. wie erstarrt
  • verstecken sich oder fliehen vor anderen Personen
  • antworten nicht auf Fragen und sprechen nicht
  • sind sehr verängstigt

Was hat Trauma mit Resilienz zu tun? Wie können Eltern, Betreuer und Lehrkräfte dazu beitragen, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken?

Trauma und Resilienz sind eng miteinander verbunden. Traumata sind belastende Ereignisse, die sich negativ auf das psychische Wohlbefinden auswirken. Resilienz hingegen bezieht sich auf die Fähigkeit eines Individuums, auf widrige Umstände und Herausforderungen angemessen zu reagieren, sich anzupassen und sich zu erholen. Eine starke Resilienz kann dazu beitragen, die negativen Auswirkungen traumatischer Erfahrungen abzuschwächen.

Resilienz kann auf verschiedene Weise gestärkt werden. Zum Beispiel durch einen Fokuswechsel: Das Positive wahrnehmen (auch wenn das Negative so offensichtlich überwiegt), um daraus Handlungskompetenzen und -möglichkeiten abzuleiten. Es geht darum, Antworten auf die Frage zu finden: "Was ist gut in meinem Leben und kann so bleiben? Hilfreich können auch Stärken- oder Kompetenzlisten sein. Auch wenn es schwierig ist, dies in den Alltag der jungen Flüchtlinge zu integrieren, ist es sehr wichtig, Dinge zu tun, die ihnen gut tun, Kontakt zu Menschen zu haben, mit denen sie gerne zusammen sind und die Möglichkeit zu haben, sich auch einmal zu erholen.

Gibt es bestimmte kulturell sensible Ansätze, die bei der Arbeit mit traumatisierten jungen Menschen aus verschiedenen ethnischen Hintergründen beachtet werden sollten?

Grundsätzlich nein. Ausgehend von den oben beschriebenen Haltungen können alle Ansätze und Methoden, mit denen man bisher gute Erfahrungen gemacht hat, in der interkulturellen Arbeit eingesetzt werden, wenn sie in Form von Angeboten gemacht werden, die auch abgelehnt werden können. Eher gefährlich ist es, zwischen „uns“ und „denen“ zu unterscheiden und so zu tun, als seien junge Flüchtlinge eine homogene Gruppe, die einer besonderen, für alle einheitlichen Behandlung bedarf. Ich halte es auch für wenig hilfreich, sich interkulturell weiterzubilden, sich also z.B. Wissen über eine bestimmte Kultur anzueignen und dann davon auszugehen, dass man weiß, was mit einem Angehörigen dieser Kultur zu tun ist.

Sich weiterzubilden und sich Wissen anzueignen ist gut und hilfreich, aber es ist unerlässlich, anzuerkennen und umzusetzen, dass jeder Mensch einzigartig ist, eine individuelle Geschichte und individuelle Bedürfnisse hat. Diese gilt es nach und nach herauszufinden und das eigene Unterstützungsangebot immer wieder flexibel anzupassen.



Diese und weitere Informationen sind die Basis unserer ausgebuchten Digitalen Schulung „Trauma & Flucht - Begleitung in der Kinder & Jugendhilfe.

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