Arbeitskräftemangel und Beschäftigungspolitik DRK Wohlfahrt

Arbeitskräftemangel im sozialen Sektor: Es geht ums Ganze!

"Mir fehlt ein nüchterner und gezielter Blick auf den sozialen Sektor", so Dr. Joß Steinke, Bereichsleiter für Jugend und Wohlfahrtspflege. Im zweiten Teil unserer Interviewreihe möchten wir den Fokus auf das Thema Arbeitskräftemangel schärfen.

Alle reden vom Arbeitskräftemangel - was fehlt in der Debatte? 

Richtig, alle reden von Arbeitskräftemangel. Aber das war's auch schon. Mir fehlt ein nüchterner und gezielter Blick auf den sozialen Sektor. In der Pandemie gab es den Begriff der “Systemrelevanz”, dazu zählen die sozialen Berufe in jedem Fall. Es ist für die Gesellschaft ein erheblicher Unterschied, ob Pflegekräfte fehlen und ältere Menschen unversorgt bleiben, ob Kita-Plätze dramatisch reduziert werden oder ob weniger Leute für Marktforschung zur Verfügung stehen. In der Pflege oder in Kitas geht es darum, dass Menschen unversorgt bleiben. Es geht darum, dass Eltern nicht mehr am Erwerbsleben teilhaben können und Kinder keine Förderung erhalten. Die Marktforschung habe ich als Beispiel gewählt, um zu illustrieren, dass die gesellschaftlichen Wirkungen des Arbeitskräftemangels in anderen Branchen vermutlich weitaus weniger schmerzlich wären.

Die Auswirkungen des Arbeitskräftemangels im sozialen Sektor werden noch gar nicht in ihrer Tragweite erfasst - auch nicht auf politischer Ebene. 

Was macht Ihnen persönlich Bauchschmerzen?  

Ich befürchte, es gibt in wenigen Jahren ein böses Erwachen. Kinder und Ältere bleiben unversorgt, Jugendliche bekommen keine Hilfe, Menschen mit Behinderungen fehlt eine adäquate Unterstützung u.s.w. Das wiederum führt unter anderem dazu, dass Familien sich noch mehr als jetzt selbst kümmern müssen - und so folglich dem Arbeitsmarkt nicht mehr oder in geringerem Umfang zur Verfügung stehen. Ein Teufelskreis. Das können wir uns nicht erlauben.  

Ich frage mich auch, was das familienpolitisch bedeutet.


Wie gehen Familien damit um, dass sie keine Angebote mehr finden? Wissenschaftlerinnen haben im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie die These der Retraditionalisierung aufgestellt und gemeint, dass Frauen den Anteil an Sorgearbeit erhöhen und so die fehlenden Angebote ausgleichen würden. Ich hoffe, dass dieses Szenario jetzt nicht dauerhaft eintritt. Der absehbare Abbau an sozialen Diensten wird in jedem Fall Stress in den Familien und auch enormen politischen Druck entfachen. Abgesehen davon, dass viele Jahre Familienpolitik in kurzer Zeit ad absurdum geführt werden. 

Und schließlich geht es auch ums Ganze.


Denn was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn Menschen zunehmend unversorgt bleiben, wenn sie keine Unterstützung bekommen, wenn sie im Alter keine Pflege erhalten? Ich erwarte, dass die Gesellschaft weiter zerfällt. Menschen mit vielen Ressourcen werden sicher Wege finden - viele andere werden abgehängt. Ungleichheit und regionale Disparitäten werden weiter zunehmen. Was heißt das für die Gesellschaft, für den Zusammenhalt? Wie bewerten Menschen, die den Boden unter den Füßen verlieren und feststellen müssen, dass sie nicht aufgefangen werden, die demokratischen Institutionen? Diese Fragen bereiten mir große Sorgen. Dass die sozialen Dienste und Einrichtungen das Fundament unserer Demokratie und auch in diesem Sinne eine kritische Infrastruktur sind, wird leider nicht ausreichend zur Kenntnis genommen.  

Wo sehen Sie die Ursachen? Ist es ein Mangel an Arbeitskräften oder ein Mangel an gutem Lohn und angemessenen Arbeitsbedingungen? 

Der ganze soziale Sektor steht in Konkurrenz zu anderen Sektoren, das ist u.a. natürlich eine Folge des demografischen Wandels. In der Pandemie haben die sozialen Dienste und Einrichtungen viele Mitarbeitende verloren. Ich habe keine verlässlichen Daten darüber, wo die gelandet sind. Gehört habe ich viel von öffentlicher Verwaltung, die ebenfalls händeringend Leute sucht. Es gibt in der Pflege sogar ein Wort dafür: Pflexit.

Natürlich ist Gehalt wichtig, aber eine große Rolle spielen auch Arbeitsplatzgestaltung, die Verlässlichkeit von Dienstplänen, Vereinbarkeitsfragen etc.


Zudem sind die psychischen und physischen Belastungen sehr hoch. Der Druck nimmt immer weiter zu, nicht nur weil immer mehr Menschen fehlen, sondern auch durch immer mehr Bürokratie. Die Abwärtsspirale, die schon länger in Bewegung ist, dreht sich immer schneller.  

Glauben Sie, der soziale Sektor braucht eine Imagekampagne?  

Ich bin generell skeptisch bei Imagekampagnen, jedenfalls wenn wir über Plakate, Filme und Social Media Posts reden. Solche Maßnahmen können möglicherweise sogar kontraproduktiv sein. Vor allem, wenn die Realität vor Ort dann ganz anders erlebt wird, als eine Kampagne suggeriert. Wir haben in der Vergangenheit erlebt, dass professionelle Imagekampagnen zur Pflege im Netz von den Pflegekräften zerrissen wurden und am Ende eher ein ganz schlechtes Bild der Pflege hängengeblieben ist. Zudem verstellen plakative Aktionen leicht den Blick auf notwendige, aber ungleich komplexere Maßnahmen und Aktivitäten. Schließlich sehen wir, dass sich die meisten Menschen aus einem eigenen Antrieb und hoher intrinsischer Motivation für einen sozialen Beruf entscheiden. Die brauchen auch keine Imagekampagne, würden das vielleicht sogar befremdlich finden.

Was es vielmehr braucht, ist eine groß angelegte politische Initiative für den sozialen Sektor. 

Welche Handlungen wären dafür notwendig? 

Ich war immer beeindruckt, wie es gelungen ist, die MINT-Berufe zu verankern und die Förderung dieser Berufe breit in die Strategien auf allen Ebenen einfließen zu lassen. Das wäre auch für die SAGE-Berufe (SAGE = Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege sowie Erziehung und Bildung) dringend notwendig; eine integrierte Beschäftigungspolitik in diesem Sinne wird sehr aufwendig und komplex, aber eigentlich sollte die Zukunft des sozialen Sektors hohe Priorität haben. Schließlich hängen der gesellschaftliche Zusammenhang und das Vertrauen in die demokratischen Institutionen in hohem Maße an diesem Sektor. Der Bundeskanzler ist wie seine Vorgängerin Schirmherr der Initiative „MINT Zukunft schaffen!“, eine annähernd vergleichbare Aufmerksamkeit finden die SAGE-Berufe bislang leider nicht. 

Die Einrichtungen und Dienste im DRK müssen sich natürlich auch selbst weiterentwickeln – auch wenn die Voraussetzungen gerade wirklich nicht günstig sind.


Es geht darum, Arbeitsabläufe zu überprüfen, die Mitarbeitenden bei der Gestaltung der Arbeitszeit gut einzubinden, Flexibilisierungen zu ermöglichen, Qualifizierungsangebote zu machen, Gesundheitsprävention zu verankern. Und letztlich müssen wir dringend die Digitalisierung forcieren, da sind noch einige Möglichkeiten zur Verbesserung von Abläufen. Da passiert im DRK natürlich schon viel. Wir haben bspw.ein digitales Tool zur Unterstützung des Managements bei der Einführung von Betrieblicher Gesundheitsförderung in Einrichtungen der stationären und ambulanten Altenpflege getestet. Das hat sich als sehr tragfähig erwiesen.   

In dieser Interviewreihe, die von Valeria Mujaes, Referentin Website DRK Wohlfahrtspflege, geführt wird, werden in den kommenden Monaten weitere Themen behandeln, wie zum Beispiel Gemeinnützigkeit, Innovationen im Sozialstaat, die Rolle der Wohlfahrtspflege zwischen Markt und Staat, Klimaschutz, Resilienz und Engagement.


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