Zwei Erwachsene bei der Gartenpflege
DRK, Andre Zelck

Wie können Wohlfahrtsverbände und die Menschen mit Behinderung gemeinsam neue Wege gehen?

Darüber können wir nicht hinwegsehen: Der Aktivist Raul Krauthausen geht in einem Blogbeitrag hart mit der Wohlfahrtspflege ins Gericht. Der Artikel ist überschrieben mit „Die Lügen der Wohlfahrtsverbände“. Er nimmt eine Kampagne (welche, bleibt offen) zum Anlass für einen frontalen Angriff:

„All diese Kampagnen und das Gerede über Inklusion verschieben ein wichtiges Problem auf den Sankt-Nimmerleinstag: elementare Rechte von Menschen mit Behinderung werden ignoriert.“

Die Wohlfahrtsverbände würden Aufklärungskampagnen nur lancieren, weil sie den wahren Kern gar nicht angehen wollen. Er vergleicht sie mit Weißen, die auch durch vermeintlich gutgemeinte aber eben doch rassistische Zuschreibungen immer wieder die für sie günstigen Herrschaftsverhältnisse herstellen. Krauthausen will nicht, dass wir bei den Barrieren in den Köpfen ansetzen, er verlangt konkrete, aktive Maßnahmen und handfestes Abbauen von Barrieren in Schulen, Verkehrsmitteln, Kinos, Restaurants und Bars. Krauthausen hat eine spitze Feder, der Text ist lesenswert: https://raul.de/leben-mit-behinderung/die-luegen-der-wohlfahrtsverbaende/. Dem Beitrag folgte ein Schlagabtausch auf Twitter. Krauthausen hat viele Unterstützerinnen und Unterstützer, sein Wort hat hohes Gewicht, bei sehr vielen Menschen.

Es geht an die Substanz

Machen wir uns nichts vor: Das geht an die Substanz. Es gehört zum Selbstverständnis der Freien Wohlfahrtspflege, sich für alle Menschen einzusetzen.  Die Kolleginnen und Kollegen der Bundesverbände wenden sehr viel Zeit und Energie auf, um die Perspektive der Menschen mit Behinderung in die politischen Prozesse einzubringen. Das Bundesteilhabegesetz hat ganze Abteilungen beschäftigt, die Gestaltung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe ist ein Dauerthema in den Verbänden. Meine Kolleginnen und Kollegen sowie die der anderen Spitzenverbände AWO, Caritas, Diakonie, Parität und ZWST sind fachlich kompetent, hochengagiert und bringen immer wieder wichtige Vorschläge ein. Allerdings können wir als Wohlfahrtsverbände keine Baumaßnahmen im öffentlichen Raum oder in Kneipen, Eiscafés und Bars organisieren, um die von Krauthausen angesprochenen Barrieren abzubauen. Auch in der Gestaltung des ÖPNV spielen wir keine Rolle. Vielleicht liegt hier ein Missverständnis in der Rollenzuschreibung vor.

Dennoch: Was, wenn wir den Rückhalt der Menschen mit Behinderung verlieren oder verloren haben? Wenn wir Gruppen vertreten, die gar nicht von uns vertreten werden möchten, das vielleicht sogar explizit ablehnen und sich gegen uns stellen? Die Frage stelle ich mir, seit ich den Text von Krauthausen gelesen habe und alles, was danach auf Twitter folgte. Es gebe eine Emanzipationsbewegung unter den Menschen mit Behinderung, tweetet Krauthausen. Das klingt fast wie die Ansage: Wir brauchen euch nicht. Das ist hart, denn es ist ja gerade ein Ziel der Wohlfahrtspflege, Barrieren für Menschen mit Behinderung abzubauen. Und ich kenne viele Menschen, die sich dafür mit Herz und Engagement in der Wohlfahrtspflege einsetzen. Warum also glaubt man uns das nicht oder nicht mehr?

Glaubwürdigkeit ist ein zentrales Thema

Es ist recht einfach, uns anzugreifen, und ich komme dabei auf meinen ersten Blog in diesem Jahr zurück. „Wer sind wir, wer wollen wir sein?“ habe ich gefragt und die inhaltlich fragwürdige Selbstbezeichnung der Wohlfahrtspflege als „Sozialwirtschaft“ selbst kritisiert: https://drk-wohlfahrt.de/blog/eintrag/wer-sind-wir-wer-wollen-wir-sein/ Ich wundere mich nicht, dass sich Menschen abwenden, wenn sie mit einer Wohlfahrtspflege konfrontiert werden, die allzu sehr die Sprache des profitorientierten Business spricht und sich auf ihre wirtschaftliche Rolle fokussiert. Das unterminiert letztlich unsere Glaubwürdigkeit insgesamt. Ich bin überzeugt, dass die Erfahrungen der sozialen Arbeit vor Ort und der Austausch mit Betroffenen unbedingt noch stärker in die politische Arbeit einfließen müssen. Das ist die Basis für mehr Glaubwürdigkeit. Ich bleibe dabei: Wir müssen aus den Neunziger Jahren herauskommen und eine moderne Wohlfahrtspflege erzeugen, die die Daseinsvorsorge und die Emanzipation aller Menschen, mit denen wir arbeiten, in den Mittelpunkt rückt. Ob wir noch eine Chance haben, Menschen wie Raul Krauthausen für uns zu gewinnen? Ich weiß es nicht. Es geht schließlich um Fragen nach gesellschaftlicher Vertretung, die über die Wohlfahrtspflege hinausweisen.

Ich bin selbst sehr viel in politische Diskurse eingebunden und argumentiere für unsere Sache im Auftrag des Deutschen Roten Kreuzes.  Es fällt generell auf, dass immer mehr Gruppen selbst ihre Interessen in die Hand nehmen oder dass Einzelpersonen ohne formale Legitimation dies tun. Großen Verbänden kam einmal die Rolle zu, Interessen zu bündeln und so aufzubereiten, dass sie für das politische System verarbeitbar war. Abgeordnete konnten sich mit Wohlfahrtsverbänden treffen und darauf setzen, dass diese bereits einen gesellschaftlichen Konsens abbilden, weil wichtige Aushandlungsprozesse dann eben schon in den Verbänden stattgefunden haben. Das ist heute nicht mehr so. Ich nehme eine Ausdifferenzierung der Interessenvertretung wahr, die in den letzten Jahren noch einmal deutlich zugenommen hat. Auf diesen Trend können wir nur reagieren, wenn wir ebenfalls „von unten“ mobilisieren und vertiefende Anbindung an Betroffenenperspektiven auch im DRK ermöglichen. Und indem wir eben möglichst vielfältig auftreten. Da haben wir sicher einiges zu tun.

Mehr Vielfalt, aber wie?

Krauthausen und seine Mitstreitenden verlangen sehr klar mehr Repräsentanz auf allen Ebenen der Verbände. Sie vertreten die Auffassung, eine Legitimation sei nur dann gegeben, wenn auch auf den Führungsebenen der Verbände Menschen mit Behinderung sichtbar handeln würden. Übersehen wird hierbei die organisierte Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, die sich in der Regel eben in den Verbänden organisiert. Denn viele Menschen mit Behinderung sind bereits Teil der Wohlfahrtspflege. Ich möchte das Anliegen der Repräsentanz dennoch gerne aufgreifen und auch zur Forderung nach verbindlichen Quoten ein paar Gedanken äußern, die aber ausdrücklich meine persönliche Sicht widerspiegeln. Das ist heikel, denn ich gehöre zu den privilegiertesten Menschen und habe Diskriminierung selbst nie erfahren. Es ist leicht, meine folgenden, teils kritischen Aussagen so zu interpretieren, als wollte ich nur die eigenen Privilegien sichern. Ich setze aber darauf, dass meine Argumente und Fragen als Angebot zum Dialog aufgefasst werden, denn so sind sie gemeint.

Es fällt auf, dass dieselben Personen, die die Wohlfahrtsverbände vehement kritisieren, gleichzeitig beanspruchen, in diesen Strukturen zu agieren. Das ist eigentlich ein gutes Zeichen und zeigt, dass wir noch eine wichtige Funktion haben. Aber um Missverständnisse zu vermeiden: Wohlfahrtsverbände sind breit verankert und müssen viele Interessen vertreten. Meinungsbildung funktioniert nicht so, dass möglichst viele Menschen sich einer Position anschließen, sondern Meinungen werden miteinander austariert und verhandelt. Das kann auch mal frustrieren. Aber diese Art der Meinungsbildung hat letztlich eben einen großen Vorteil: Sie erleichtert Bündnis- und Netzwerkarbeit und ist die Grundlage dafür, gemeinsam mit vielen unterschiedlichen Gruppen wichtige gesellschaftspolitische Anliegen zu verfolgen und Barrieren abzubauen. Von Menschen, die in Verbänden Verantwortung übernehmen, wird deswegen letztlich erwartet, dass sie Dinge aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Der Hinweis ist mir wichtig, weil sich häufig Menschen aus verschiedenster Richtung an mich wenden, die nicht verstehen, warum wir uns nicht vor allem für ihre Belange einsetzen.

In aller Klarheit: Wir sollten uns als Wohlfahrtsverbände neu aufstellen und neue Formen der Zusammenarbeit entwickeln. Die Frage nach einer Quote führt jedoch automatisch zur Frage danach, welche weiteren Quoten wir bräuchten. Es ist ja schon zu bedenken, dass Menschen mit Behinderung nicht die einzige gesellschaftliche Gruppe darstellen, die Diskriminierung erfährt (wenn man denn überhaupt alle Menschen mit Behinderung als homogene Gruppe betrachten sollte). Wir müssen darüber reden, aber wir müssten hier zunächst einen grundsätzlichen Dialog über die Repräsentanz der pluralen Gesellschaft innerhalb unserer Institutionen führen. Hier sind für mich noch sehr viele Fragen offen.

Alle Verbände sind grundsätzlich bereits jetzt zugänglich. Menschen, die sich zu den Grundsätzen oder Werten der jeweiligen Organisation bekennen, haben die Möglichkeit, sich einzubringen, wählen zu lassen oder Aufstiege zu realisieren. Wir müssen hier aber mehr tun, um solche Wege auch zu ermöglichen, das ist richtig. Im DRK setzen wir gerade konzeptionell und mit neuem Personal an. Und wir freuen uns, wenn wir hier erfolgreich sind.

Also: Kommt rein, werdet gerne DRK-Mitglieder (oder bringt euch in einem der anderen Wohlfahrtsverbände ein) und lasst uns gemeinsam Konzepte entwickeln und Veränderungen herbeiführen!