(c) Gerd Altmann auf Pixabay

Junge Wilde - "Systemsprenger" oder "most vulnerable"?

Der Begriff der „Jungen Wilden“ geistert seit Jahren durch die Fachwelt der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe. Dabei ist oft unklar, was die Jungen Wilden ausmacht und wie Teilhabe für sie ermöglich werden kann. Kann diese überhaupt ermöglicht werden – oder gibt es Grenzen der Inklusion?

Mein Kollege Rüdiger Fritz hat sich lange mit den Jungen Wilden in der Jugendhilfe beschäftigt. Auf die Hintergründe angesprochen, meint er:

„Mein Eindruck ist, dass das Phänomen bislang nur unter Expertinnen und Experten diskutiert wird und dass es auch keine einheitliche Bezeichnung zu geben scheint. In der Kinder- und Jugendhilfe lauten die Phänomene ‚dissoziales Sozialverhalten‘ oder ‚Systemsprenger‘ – letzteres hat ja erst im Herbst letzten Jahres durch den gleichnamigen Kinofilm in die Öffentlichkeit gefunden.“

Jung und wild – oder?

Mit der Bezeichnung „Junge Wilde“ sind Kinder, Jugend­liche und junge Erwachsene gemeint, die vor allem durch Einschränkungen in der emotionalen Steuerungsfähigkeit und hiermit verbundenen großen Schwierigkeiten im Sozialverhalten auffallen: Sie rasten oft scheinbar grundlos aus, lernen fällt ihnen schwer, sie haben Konzen­trations- und Ausdauerprobleme.

In ihrer Persönlichkeitsentwicklung erscheinen sie so wenig gereift, dass sie für Außenstehende oft auf der emotionalen Ent­wicklungsstufe eines Kleinkindes stehen. Sie sind nicht in der Lage, ihr Leben selb­ständig zu organisieren, haben keine soziale Orientierung und sind daher meist nicht in der Lage, sich in Gruppen zu integrieren. Ungewohnte Situationen führen zu angstbedingtem Rückzug oder zu kaum kontrollierbaren Aggressionen.

Erst langsam beginnt sich in der Fachwelt die Einschätzung durchzusetzen, dass wir es hier nicht mit einer reinen Verhaltensstörung zu tun haben, sondern mit einem Behinderungsbild, das man mit „sozial-emotiona­lem Handicap“ bezeichnen kann. In jedem Fall fühlen sich die Betrof­fenen deutlich in ihren Teilhabemöglichkeiten behindert.

Neue Lösungsansätze finden

Häufig scheitern diese jungen Menschen in der Ausbildung oder im Arbeitsleben, beim Wohnen und der Gestaltung ihrer Beziehungen. Die geringe Wirksamkeit üblicher pädagogischer Mittel macht es notwendig, nach neuen Lö­sungsansätzen zu suchen.

Für Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe stellt sich häufig die Frage, wie eine angemessene Unterstützung innerhalb der bestehenden pädagogischen Angebote aussehen kann, ob man neue Angebote entwickeln muss und – oft noch wesentlicher – wie eine Weiterbegleitung nach Ende der Jugendhilfe­maßnahme und die Inklusion in die Gesellschaft und ins Arbeitsleben im Erwachsenenleben gelingen kann.

Das DRK und die Jungen Wilden

Kernaufgabe des DRK ist, sich für diejenigen Menschen einzusetzen, die als die „most vulnerable“ – die verletzlichsten Menschen der Gesellschaft – gel­ten. Die jungen Wilden, die meist durch alle herkömmlichen Raster der Hilfssysteme der Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe fallen, gehören mit Sicher­heit dazu.

Deshalb hat das DRK-Generalsekretariat 2014 gemeinsam mit dem DRK-Sozialwerk Bernkastel-Wittlich bei einer Fach­tagung das Thema und seinen Lösungsmöglichkeiten mit breiten Expertenkreis aus Wissenschaft, Einrichtungen und Verbänden diskutiert. Die Publikation „Teilhabe für Junge Wilde – Gibt es Grenzen der Inklusion? Wie Teilhabeförderung für (junge) Menschen mit einem sozial-emotionalen Handicap ge­lingen kann“ fasst die Beiträge nochmals zusammen. Hierin wird ein grundsätzliches Ver­ständnis der Störung vorgestellt, Schlussfolgerungen für die Gestaltung von Maß­nahmen zur Teilhabeförderung von Betroffenen zusammengetragen und konkrete Best Practice-Projekte vorgestellt, die Lösungsansätze liefern können.

Nötig ist der Blick über den Tellerrand und interdisziplinäre Kooperation

Rüdiger Fritz und ich sind da einer Meinung: Der Blick über den Tellerrand ist ebenso gefragt wie interdisziplinäre Kooperation:

„Ich finde es wichtig, dass wir mit der Tagung den Dialog über die Grenzen der einzelnen Fachdisziplinen der Jugendhilfe, Behindertenhilfe und (Kinder- und Jugend-)Psychiatrie hinaus angegangen sind. Die teilweise kontroversen Ansichten hatten dort einen Platz zur Diskussion, der sich innerhalb der Institutionen in der Regel nicht bietet. Meine Hoffnung ist, dass wir damit im Verband und darüber hinaus eine größere multidisziplinäre Diskussion befördern konnten.“

Auch heute, fünf Jahre nach unserer Fachtagung, hat das Thema nicht an Aktualität verloren. Dies zeigt nicht zuletzt der Ende 2019 in die Kinos gekommene Film „Systemsprenger“ (Trailer). Also schauen Sie mal rein in unsere Publikation.