Der soziale Sektor steht an vielen Stellen nicht erst seit der Corona-Pandemie vor Herausforderungen, wenn es um die Gewinnung und langfristige Bindung von Personal geht. Mit Blick auf die kommenden Jahre ist zu erwarten, dass sich diese Entwicklung angesichts des demografischen Wandels und des damit verbundenen Ansteigens des Versorgungsbedarfs kontinuierlich verschärfen wird. Angesichts vielfältiger Problemlagen und Anforderungen sowie begrenzter Handlungsmöglichkeiten stehen Träger und Einrichtungen unter enormem Handlungsdruck. Ihr Umgang mit der Personalsituation hat unmittelbare Auswirkungen auf die Verfügbarkeit und Qualität von sozialen und gesundheitlichen Angeboten für die Gesellschaft. Es zeigt sich, dass der um sich greifende und zunehmende Arbeitskräftemangel längst nicht mehr nur auf der Metaebene und von der Fachwelt diskutiert wird. Seine Auswirkungen beschäftigen unsere Einrichtungen schon heute und zeigen: „Weiße Flecken“, Gebiete mit wenig sozialen Angeboten für vulnerable Gruppen, sind in manch ländlichen und infrastrukturschwachen Gebieten bereits heute Realität – in weiteren Regionen sind sie auf lange Sicht nur eine Frage der Zeit.
Wie es ist, darf es nicht bleiben
Die aktuelle Situation ist das Ergebnis langjähriger Entwicklungen und verpasster Chancen. Um zu verstehen, welche Herausforderungen künftig auf den sozialen Sektor zukommen werden, hilft ein Blick auf die derzeitige Beschäftigungssituation in den Arbeitsfeldern und die dahinterliegenden Problemlagen1.
Der Bedarf nach Arbeitskräften ist im Zeitverlauf kontinuierlich gewachsen und hat das verfügbare Fachkräftepotenzial schlussendlich deutlich überstiegen2 und führt heute dazu, dass offene Stellen häufig nicht (mehr) in ausreichendem Maße besetzt werden können. Auch die Vakanzzeit – die Dauer, die Stellen mangels geeigneter Bewerber:innen unbesetzt bleiben (müssen), unterstreichen diesen Trend. Im Jahr 2019 lag sie im Durchschnitt zu allen Erwerbstätigen (124 Tagen) in der Kindertagesbetreuung bei 71 Tagen, für Sozialarbeiter/Sozialpädagogen bei 190 Tagen und in der Altenpflege sogar bei 206 Tagen3.
Insbesondere der demographische Wandel führt zu einer Zunahme der Konkurrenz unter den Einrichtungen um geeignetes Personal. Bei vielen dieser Stellen handelt es sich um akute Vakanzen und nicht um jene Stellen, die zur generellen Bedarfsdeckung an Personal nötig wären. Regionale Arbeitsmarktspezifika, demographische Veränderungen bis hin zu einem allgemeinen Gap zwischen Bedarf einerseits und verfügbaren Arbeitskräften andererseits – der Mangel hat viele Ursachen. Auch der Finanzierung sozialer und gesundheitsbezogener Angebote kommt angesichts steigender Versorgungsbedarfe eine herausragende Rolle zu, wenn es um die Gewinnung und Bindung von Arbeitskräften geht. Die vielfach unzureichende finanzielle Ausstattung – insbesondere in den Bereichen der sozialen Beratung – erfordert eine solide(re) Absicherung der strukturellen Finanzierung sowie die Weiterentwicklung bisheriger Refinanzierungsstrukturen. Dies erscheint vor allem vor dem Hintergrund einer langfristig anzustrebenden Aufwertung der Arbeitsfelder und Verbesserung der Arbeitsbedingungen als notwendig.
Das oft als Argument herangezogene, belastete Image des sozialen Sektors mag auf einzelne Arbeitsfelder mit besonders heraufordernden Arbeitsbedingungen zutreffen. Als pauschales Argument greift es jedoch zu kurz, wie etwa kontinuierliche Zuwächse an Auszubildenden im Bereich der Pflege sowie in den Erziehungsberufen der letzten Jahre nahelegen. Der Personalzuwachs ist jedoch nicht bedarfsdeckend und keineswegs mit einer ausreichenden Anzahl an qualifizierten Nachwuchskräften gleichzusetzen.
Die ohnehin oft angespannten Arbeitsbedingungen werden durch die zu geringe Anzahl an Nachwuchskräften verstärkt und begünstigen eine insgesamt zunehmende Unzufriedenheit, Personalfluktuation und eine schleichende, aber anhaltende, Abwanderung aus dem Sektor. Diese Entwicklungen sind für sich isoliert betrachtet bereits besorgniserregend. Die Gesamtbetrachtung verschärft sich infolge der Covid-19-Pandemie zusätzlich und erzeugt einen akuten Handlungsbedarf. Kurz gesagt: Wie bisher kann es für den sozialen Sektor nicht weitergehen.
Einblicke in die Praxis
Gestützt wird diese Einschätzung durch die besorgten Rückmeldungen aus der Praxis. Die DRK-Verbandsgliederungen mit ihren sozialen und gesundheitsbezogenen Einrichtungen erleben den oben festgestellten Arbeitskräftemangel hautnah vor Ort. Dabei sind die Herausforderungen keineswegs nur auf das DRK begrenzt, sondern betreffen je nach Region und Arbeitsfeld alle Träger der sozialen Arbeit – egal ob gemeinnützig oder gewerblich. Während heute mit Blick auf die Beschäftigtensituation bereits regelmäßig von „beängstigenden“ bis hin zu „katastrophalen“ Zuständen gesprochen wird und Begriffe wie „Personalnotstand“ und „Mangelverwaltung“ genannt werden, fällt die Prognose für die kommenden Jahre nicht weniger alarmierend aus. In kaum einem Arbeitsfeld wird hoffnungsvoll in die Zukunft geblickt – im Gegenteil! Mehrheitlich wird stattdessen mit einer weiteren Verschärfung der Situation gerechnet.
#ZukunftWohlfahrt: Ruf nach einer koordinierten Beschäftigungspolitik
Angesichts der starken Brisanz des Themas stellte das DRK den Fachtag #ZukunftWohlfahrt am 23. November 2021 unter das Motto „Beschäftigung im sozialen Sektor“. Im Dialog mit seinen Verbandsgliederungen sollte der Erfahrungsaustausch befördert und mögliche Lösungsstrategien gemeinsam eruiert werden. Dr. Christian Hohendanner4 und Jasmin Rocha5 präsentierten dabei erste Erkenntnisse aus einer Analyse statistischer Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)6 zur Beschäftigungssituation im sozialen Sektor. Daraus wurde deutlich, dass der Bedarf an sozialen Hilfen und Angeboten stetig steigt und der soziale Sektor sich auf kontinuierlichem Wachstumskurs befindet. Infolge dieser Entwicklung zeichnet sich jedoch ein steigender Arbeitskräftebedarf ab, der sich angesichts des sowohl zunehmenden Personalwettbewerbs im sozialen Sektor selbst als auch spürbarer Konkurrenz mit anderen Branchen verschärft. Neben der Personalrekrutierung gewinnt insbesondere die langfristige Personalbindung an Bedeutung. Attraktive Arbeitsbedingungen sind hierfür einer der ausschlaggebendsten Faktoren; sie sind jedoch nur schwer einheitlich herzustellen. Angesichts der starken strukturellen Unterschiede im sozialen Sektor droht nicht nur ein zunehmendes Auseinanderdriften der Arbeitsbedingungen, sondern auch eine Entwicklung, die regionale Ungleichheiten bei der Personalgewinnung weiter verschärft.
Dem Faktor Arbeitsqualität7 kommt daher eine zentrale Rolle zu, wenn es darum geht, Strategien zu entwickeln, um Menschen für den Eintritt und Verbleib in einem Job des sozialen Sektors zu begeistern. Träger und Einrichtungen müssen sich systematischer damit auseinandersetzen, was den Beschäftigten in ihrer Tätigkeit wichtig ist, welchen Wert sie Fragen der Vereinbarkeit, zeitlichen Flexibilität, Autonomie und persönlichen Gestaltungsmöglichkeiten beimessen. Dafür sollten wir wissenschaftliche Erkenntnisse nutzen. So zeigten die Fachvorträge, dass sich neben der empfundenen Lohnangemessenheit gerade auch Faktoren wie (häufig) wechselnde Arbeitszeiten und ein unsicheres Arbeitsverhältnis, beide im sozialen Sektor vergleichsweise häufig anzutreffen, auf die Arbeitszufriedenheit auswirken. Die sollten wir im Blick behalten, denn wer unzufrieden ist, ist häufiger krank und sucht schneller nach einem anderen Job.
Herausforderungen suchen Lösungen
Aus den Erkenntnissen ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, wie sich die Arbeitsbedingungen sowie die Personalgewinnung und -bindung verbessern lassen. Die Identifizierung der eigenen Stärken und Schwächen spielt eine zunehmend wichtige Rolle, um sich gegenüber der Konkurrenz positiv abzugrenzen und das eigene Profil zu schärfen. In attraktiven Arbeitsbedingungen liegt ein Schlüssel für die Gewinnung geeigneter Arbeitskräfte. Hierzu gehören neben einem konkurrenzfähigen Gehalt, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, ein betriebliches Gesundheitsmanagement, die fachliche Förderung sowie berufliche Weiterentwicklungsmöglichkeiten. Die Stärkung der eigenen Arbeitgeber”marke” muss vor diesem Hintergrund als ganzheitliches Aushängeschild einer Einrichtung verstanden und an die Anforderungen von potenziell Beschäftigten angepasst werden. Junge Menschen legen heute oft Wert auf andere Dinge als die Generationen vor ihnen. Darauf müssen wir eingehen und entsprechende Beschäftigungsangebote schaffen.
Doch schon heute sind die Bestrebungen und die Eigeninitiative im sozialen Sektor arbeitgeber- und einrichtungsübergreifend groß, die Arbeitsbedingungen nachhaltig zu verbessern und so dem zunehmenden Arbeitskräftemangel zu begegnen. Neben Maßnahmen, die gemeinnützige Träger als Arbeitgeber umsetzen können, bedarf es substanzieller Verbesserungen. Ohne ein politisches Bekenntnis zur sozialen und gesundheitlichen Daseinsvorsorge kann ihre zukunftsfähige Ausgestaltung nicht gelingen.
Das DRK hat sich bereits im Vorfeld der Bundestagswahl in die politische Debatte eingebracht und sich für eine ganzheitlich und aufeinander abgestimmte Beschäftigungspolitik für den sozialen Sektor eingesetzt. Ziel ist es, die Rolle des sozialen Sektors in der öffentlichen Auseinandersetzung zu untermauern und politisches Handeln angesichts des immer stärker um sich greifenden Arbeitskräftemangels einzufordern. Hierzu gehört unter anderem der stetige Austausch zwischen Bundesregierung und Akteurinnen und Akteuren des sozialen Sektors.
Es ist Zeit für Veränderung
Angesichts des Arbeitskräftemangels im sozialen Sektor und der vielschichtigen Problemlagen ergeben sich für die neue Bundesregierung vielfältige Herausforderungen. Zugleich bieten die neuen politischen Mehrheitsverhältnisse angesichts der angespannten Beschäftigungssituation im sozialen Sektor auch ungeahnte Chancen für grundlegende Veränderungen. Die im Koalitionsvertrag vereinbarten Punkte zur Stärkung von Pflege8- und Erziehungsberufen9 sowie die angekündigten Maßnahmen in der (Aus-)Bildungspolitik10 und bei der beruflichen Weiterbildung11 stellen einen wichtigen ersten Schritt dar, um auch in Zukunft die Beschäftigung im sozialen Sektor sichern zu können. Sie dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass für eine langfristige und tragfähige Lösung noch viele weitere folgen müssen.
Denn nur mit einem starken und auch in Zukunft handlungsfähigen sozialen Sektor kann die soziale Infrastruktur aufrechterhalten, gleichwertige Lebensverhältnisse angestrebt und der gesellschaftliche Zusammenhalt gefördert werden. Die neue Bundesregierung muss sich an ihren Versprechen messen lassen und mit mutigen Ideen vorangehen.
1 Die Covid-19-Pandemie muss bei dieser Analyse zwar zwingend in den Blick genommen werden, darf jedoch angesichts der strukturellen Problemlagen im sozialen Sektor lediglich als Auswirkung und begünstigenden Faktor, jedoch nicht als Ursache verstanden werden.
2 vgl. BIBB-IAB-Qualifikations- und Berufsprojektionen, 6. Welle (Basisprojektion. Datenbankabruf aus dem QuBe-Datenportal. Abrufbar unter: www.qube-projekt.de
3 Fuchs-Rechlin: Soziale Berufe – Systemrelevant! Soziale Berufe – Anerkannt? Schlaglichter auf den Arbeitsmarkt der Gesundheits-, Sozial- und Erziehungsberufe, in Fischer, Jörg; Graßhoff, Gunther (Hrsg.): Fachkräfte! Mangel! Die Situation des Personals in der Sozialen Arbeit. 3. Sonderband Sozialmagazin, Beltz Juventa, 2021.
4 Dr. Christian Hohendanner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Er promovierte zum Thema "Beschäftigungsformen jenseits der Normalarbeit" an der Universität Erlangen-Nürnberg und forscht schwerpunktmäßig zu den Themen betriebliche Personalpolitik, Qualität der Beschäftigung, aktive Arbeitsmarktpolitik sowie zu Beschäftigungsbedingungen im sozialen und gemeinnützigen Dienstleistungssektor.
5 Jasmin Rocha ist als Research Managerin Evaluation & Statistik im Bereich Jugend und Wohlfahrtspflege des DRK-Generalsekretariats tätig. Neben der fachlichen Evaluation von Modellprojekten ist sie dafür zuständig, die Datenerhebung und -nutzung im Verband und den Verbandsgliederungen weiterzuentwickeln.
6 Die Datenauswertungen sind Bestandteil eines gemeinsamen Buchprojektes von Dr. Christian Hohendanner (IAB) Dr. Joß Steinke (Bereichsleiter Jugend und Wohlfahrtspflege, DRK) und Jasmin Rocha (DRK) zur Beschäftigungssituation im sozialen Sektor, an dem auch der Autor dieses Artikels mitwirkt. Die Veröffentlichung des Buches im Verlag DeGruyter ist für das Jahr 2022 geplant
7 Die allgemeine Arbeitsqualität umfasst dabei etwa den Grad der Autonomie, des Gestaltungsspielraums und der Flexibilität in der Arbeitszeitgestaltung, aber auch die Arbeitsplatzsicherheit, die Höhe und den Umfang an Lohn- und Zusatzleistungen sowie Möglichkeiten zur Kompetenzanwendung und Weiterbildung.
8 Pflegeberufe: u.a. (1) Prüfung der sozialen Pflegeversicherung, (2) Einführung und Weiterentwicklung der Personalbemessung, (3) Schließen der Gehaltslücke zwischen Kranken- und Altenpflege, (4) Attraktivitätssteigerung durch Steuervergünstigungen und Förderung einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, (5) Harmonisierung der akademischen und nicht-akademischen Ausbildung, (6) Einführung des Berufsbilds der „Community Health Nurse“, (7) Erweiterung der pflegerischen Tätigkeit um heilkundliche Tätigkeiten, (8) Ausbau der Fachkräftegewinnung aus dem Ausland und bessere Anerkennung von Berufsabschlüssen.
9 Erziehungsberufe: (1) Investitionsprogramm für den Kita-Ausbau, (2) Weiterentwicklung der Kindertagespflege, (3) gemeinsame Umsetzungskoordinierung der Ganztagesbetreuung von Bund, Ländern und Kommunen und Entwicklung eines gemeinsamen Qualifikationsrahmens, (4) Entwicklung einer von Bund und Ländern gemeinsam koordinierten Fachkräftestrategie für Erziehungsberufe, (5) Schaffung eines bundeseinheitlichen Rahmens für die Erziehungsausbildung, (6) Förderung der praxisintegrierten Ausbildung.
10 (Aus-)Bildungspolitik: u.a. (1) Einführung einer Ausbildungsgarantie, Schulgeldfreiheit und Vergütung von Ausbildungen, (2) Ausbau berufsbildender Schulen sowie (3) Förderung von Berufsorientierung.
11 Weiterbildung: (1) Reform des Aufstiegs-BAföG, (2) Einführung eines neuen Lebenschancen-BAföG, (3) Umsetzung einer Bildungs(teil)zeit und Stärkung der Bundesagentur für Arbeit zur Verwirklichung verbesserter Beratungs- und Qualifizierungsangebote.