Nina Tsonkidis: Lieber Alex, ich habe dich beim DRK-Wohlfahrtskongress 2025 persönlich in einem gemeinsamen Workshop besser kennenlernen können. Deine klare Haltung und deine Fürsprache für den Pflegeberuf und vor allem für die Mitarbeitenden hat mich sehr berührt. Du hattest aber zuerst andere berufliche Pläne, richtig?
Alexander Voigt: Das stimmt. Ich komme aus einer Juristenfamilie und wollte eigentlich auch Jurist werden. Dann habe ich meinen Zivildienst in der Pflege gemacht – und nach einer Woche festgestellt: Jesses nein, das ist genau das, was ich schon immer machen wollte!
Nina Tsonkidis: Was hat dich am Pflegeberuf überzeugt?
Alexander Voigt: Es sind diese magischen Momente, wenn man Menschen in einer schweren Lebensphase begleiten kann – wenn man ihnen Respekt und ein Stück Lebensqualität zurückgeben darf. Das empfinde ich bis heute als tief sinnstiftend.
Nina Tsonkidis: Wie hat sich dein beruflicher Weg dann entwickelt?
Alexander Voigt: Mit 23 Jahren habe ich die Ausbildung zum Altenpfleger gemacht. Schon bald übernahm ich Leitungsverantwortung in Freiburg und habe mich kontinuierlich weiterqualifiziert – als Gutachter für die Heimaufsicht, als Dozent an einer Altenpflegeschule und schließlich im Studium im Bereich Management im Gesundheitswesen.
Gute Pflege braucht eine starke Ausbildung – das ist nicht nur ein Konzept, sondern bei uns gelebte Praxis.
Nina Tsonkidis: Welche Aufgaben hast du heute und wie bist du nach Heidenheim gekommen?
Alexander Voigt: Nach Heidenheim hat mich meine zweite Frau gebracht (lacht). Ich bin heute Pflegedirektor und Prokurist der Heidenheim Pflegedienste gGmbH in Baden-Württemberg. In dieser Funktion verantworte ich rund 340 Mitarbeitende in vier stationären Einrichtungen, drei Tagespflegen, einem ambulanten Pflegedienst sowie dem Menüservice „Essen auf Rädern“.
Nina Tsonkidis: Du setzt stark auf Ausbildung. Warum ist das so zentral für dich?
Alexander Voigt: Wir bauen sogar einen eigenen Bereich auf für dieses Themenfeld, weil es das einzige ist, das uns retten kann. Derzeit arbeiten über 80 Auszubildende bei uns. Gute Pflege braucht eine starke Ausbildung – das ist nicht nur ein Konzept, sondern bei uns gelebte Praxis. Seit 2008 verfolge ich dieses Ziel konsequent. In einer früheren Einrichtung mit über 100 Betten habe ich damals bereits die Zahl der Auszubildenden von 2 auf 26 erhöht. Die Strategie hat sich ausgezahlt: weniger Krankheitsausfälle, stärkere Bindung an den Arbeitgeber, mehr Kontinuität – und ein selbstbewusstes Pflegeteam.
Nina Tsonkidis: Wie gelingt es, die Zahl der Auszubildenden so deutlich zu erhöhen, ohne den laufenden Betrieb zu überfordern?
Alexander Voigt: Im Mittelpunkt steht eine zentrale Ausbildungskoordination, die mir direkt zugeordnet ist und nicht den einzelnen Einrichtungsleitungen. Diese Koordination wird von zwei Ausbildungskoordinatorinnen übernommen, die sich um alle organisatorischen Aspekte kümmern – von der Planung der Praxisbegleitungen und Außeneinsätze bis hin zur Erstellung der Dienstpläne für den Ausbildungsteil. Dabei wird besonders darauf geachtet, dass Praxisanleitungen ihre Fortbildungen flexibel gestalten können und individuell gefördert werden.
Ein weiteres Herzstück des Konzepts sind speziell entwickelte Lernaufgaben. Diese reichen von einer „Hausrallye“, bei der Auszubildende spielerisch die Einrichtung und wichtige Ansprechpersonen kennenlernen, bis hin zu komplexen pflegefachlichen Aufgaben wie dem Umgang mit Notfällen oder der Zusammenarbeit in Eskalationssituationen. Unser Ziel ist es, die Auszubildenden nicht nur fachlich, sondern auch organisatorisch sicher zu machen.
Nina Tsonkidis: Was ist dir bei der Ausbildung besonders wichtig?
Alexander Voigt: Die Auszubildenden sollen ernst genommen und als Lernende behandelt werden – nicht als billige Arbeitskräfte. Gleichzeitig wird vermittelt, was es heißt, in der Pflege zu arbeiten, inklusive Wochenenddiensten und Frühschichten. Dieses Gleichgewicht zwischen Förderung und realistischen Anforderungen sehe ich als essenziell. Es geht darum, Menschen für einen helfenden Beruf zu begeistern und ihnen den Raum zu geben, sich zu entwickeln.
Wichtig ist dabei, dass das Konzept nicht nur auf dem Papier existiert, sondern aktiv gelebt wird – durch motivierte Praxisanleitende, die ihre Aufgabe ernst nehmen und mit Leidenschaft ausfüllen.
Nina Tsonkidis: Und wie sieht es mit den Kosten für diese zusätzlichen Stellen aus?
Alexander Voigt: Natürlich kostet das Geld. Wenn ich jedoch zwei Betten nicht belegen kann, weil Personal fehlt und somit pro Monat ca. 10.000 Euro dadurch verloren gehen, erscheint die Investition in Ausbildung in einem anderen Licht. Hinzu kommt: Wer 20 Auszubildende hat, kann theoretisch zwei Praxisanleitungsstellen vollständig gegenfinanzieren.
Das Problem ist oft nicht die Realität, sondern die Vorstellung davon, was möglich ist.
Nina Tsonkidis: Warum setzen deiner Meinung nach dann nur wenige Einrichtungen auf diesen Ausbildungsansatz?
Alexander Voigt: Man kann tausend Gründe finden, so eine Strategie nicht umzusetzen, aber man muss es einfach trotzdem machen und auch Lust darauf haben. Dann stellt man schnell fest, dass es funktioniert und dort, wo vorher nur vier Personen waren, sind auf einmal sechs – und spätestens bei der ersten Grippewelle freuen sich auch diejenigen, die es erst als eine Belastung empfunden haben. Dass ich manchmal gegen Widerstand arbeiten muss, habe ich aber schon früher erlebt.
Nina Tsonkidis: Kannst du mir ein Beispiel geben?
Alexander Voigt: In meiner Zeit beim DRK-KV Freiburg habe ich ein Integrationsprojekt initiiert – mit einer halbjährlichen Vorqualifikation für damals nach Deutschland geflüchtete Menschen, unabhängig von deren Status. Es gab viel Widerstand, weil man davon ausgegangen war, dass es nicht geht – rechtlich nicht, der Schulbesuch nicht, die Praktika nicht etc. Was war das spätere Ergebnis? Über 80 Personen wurden innerhalb des Projekts qualifiziert, und mindestens 30 von ihnen gingen danach in eine dreijährige Ausbildung. Das Problem ist oft nicht die Realität, sondern die Vorstellung davon, was möglich ist.
Nina Tsonkidis: Wie gelingt es euch, immer wieder neue Auszubildende für die Pflege zu gewinnen?
Alexander Voigt: Wir schöpfen immer noch stark aus dem Pool der Menschen, die in unserem Land Schutz suchen mussten. Aktuell haben unter den 85 Auszubildenden 80 Prozent eine Migrationsgeschichte. Wir konnten viele Menschen, die 2015 nach Deutschland fliehen mussten, gewinnen – insbesondere junge Männer, die noch in Gemeinschaftsunterkünften lebten und eine Perspektive suchten. Vielen hat nur eine echte Chance gefehlt. Sie haben es nicht geschafft, unterstützt und begleitet zu werden. Es hilft manchmal schon, ihnen zu sagen: „Ich traue es dir zu und ich nehme mir Zeit für dich.“
Sie unterstützen heute nicht nur durch ihre Fachkraft, sondern auch durch ihr Netzwerk. Durch diese Zugänge in verschiedene Communities kommen bis heute motivierte Personen in die Ausbildung, die dann schon wissen, wie die Arbeit in der Praxis wirklich aussieht.
Es gehört für mich ein hohes Maß an Respekt dazu, dass man Menschen nicht nur einfach ins Unternehmen holt und sagt, das wird schon klappen, sondern man muss auch selbst etwas investieren.
Nina Tsonkidis: Ein weiterer Baustein deines Erfolgs ist die Vielfalt an Ausbildungsmöglichkeiten. Wie sieht das konkret aus?
Alexander Voigt: Neben der dreijährigen generalistischen Pflegeausbildung gibt es auch die zweijährige Altenpflegehelferausbildung sowie spezielle Migrationskurse für Menschen mit Deutschkenntnissen ab Niveau A2. In diesen Kursen erhalten die Teilnehmenden intensive Sprachförderung – 10 Stunden pro Woche im ersten Jahr und 5 Stunden im zweiten Jahr. Am Ende der Ausbildung erreichen sie das Sprachniveau B2 und haben damit direkten Zugang zur weiterführenden dreijährigen Pflegeausbildung. Diese Kombination aus Sprachförderung und praktischer Ausbildung ermöglicht es vielen Menschen mit Migrationserfahrung, erfolgreich in den Pflegeberuf einzusteigen.
Einige Auszubildende absolvieren sogar eine fünfjährige Ausbildung: Sie beginnen mit dem zweijährigen Migrationskurs und schließen danach die dreijährige generalistische Ausbildung an.
Nina Tsonkidis: Was ist dir in diesem Ausbildungsprozess besonders wichtig?
Alexander Voigt: Es gehört für mich ein hohes Maß an Respekt dazu, dass man Menschen nicht nur einfach ins Unternehmen holt und sagt, das wird schon klappen, sondern man muss auch selbst etwas investieren.
Die nächste Transformation im Unternehmen steht nun an mit der Stelle einer Integrationsmanagerin – „die gute Seele“, nenne ich sie. Sie unterstützt internationale Fachkräfte im alltäglichen Leben, bei Behördengängen und im sozialen Ankommensprozess.
Nina Tsonkidis: Spielt das Thema Rassismus bei euch eine Rolle und wenn ja, wie geht ihr damit im Pflegealltag um?
Alexander Voigt: Rassismus ist ein Thema, und zwar in beide Richtungen – zwischen Mitarbeitenden und mit Bewohnerinnen und Bewohnern. Das passiert oft, und manchmal ist es durch Demenz motiviert, weil die Grenze nicht mehr gezogen werden kann.
Auszubildende werden professionell darauf vorbereitet und unterstützt, wenn ein Vorfall passiert. Auch im Kollegium gibt es Situationen, in denen diskriminierendes Verhalten sichtbar wird.
Nina Tsonkidis: Was macht ihr dann?
Alexander Voigt: Wir machen klar, dass dafür kein Platz bei uns ist. Es ist unsere Haltung, die fest auf demokratischen Werten und unseren Grundsätzen im DRK fußt und die wir auch verteidigen. Gleichzeitig wird Raum geschaffen, das eigene Verhalten zu reflektieren. Wir glauben daran, dass Menschen sich verändern können – wenn sie bereit sind, ihr Verhalten zu reflektieren. In der Praxis heißt das: zuhören, konfrontieren, begleiten.
Nina Tsonkidis: Welche Zukunftswünsche hast du für die Heidenheim Pflegedienste gGmbH?
Alexander Voigt: Genügend Personal und eine flexible Organisation. Wir möchten eine Vielfalt an Angeboten haben, sodass wir Menschen etwas anbieten können. Wir haben zum Beispiel bereits eine solitäre Kurzzeitpflegeeinrichtung gegründet. Ein weiterer Meilenstein wäre die Eröffnung einer sogenannten Gemeindeschwesterpraxis um den kommenden Mangel an hausärztlicher Versorgung, gerade im ländlichen Bereich, etwas entgegenzusetzten. Dafür sind leider die Voraussetzungen noch nicht geschaffen, aber wir werden am Ball bleiben, und wenn es möglich wird auch in die Umsetzung gehen.
Nina Tsonkidis: Und zum Schluss noch eine persönliche Frage aus Berlin nach Baden-Württemberg: Was ist dein Lieblingsessen?
Alexander Voigt: Maultaschen und Allgäuer Kässpatzen. Die schwäbischen kann man schon essen, aber die Allgäuer Kässpatzen sind wirklich die besten.
Nina Tsonkidis: Lieber Alex, vielen Dank für das inspirierende Gespräch!
Alexander Voigt zeigt eindrucksvoll, wie die Heidenheim Pflegedienste gGmbH dem Arbeits- und Fachkräftemangel in der Pflege aktiv und erfolgreich begegnet. Durch eine konsequent gelebte und gut begleitete Ausbildungskultur, gezielte Ankommensstrukturen für Menschen mit Migrationsgeschichte und eine klare Haltung gegen Diskriminierung entsteht ein tragbares und zukunftsfähiges Modell für Pflegeeinrichtungen. Voigts Ansatz beweist: Mit Mut, Engagement und struktureller Unterstützung lässt sich nicht nur Personal gewinnen, sondern auch ein wertschätzendes Arbeitsumfeld schaffen – das den Menschen in den Mittelpunkt stellt.
Nina Tsonkidis ist Referentin für Arbeitskräftesicherung im Sozialwesen im DRK-Generalsekretariat und sammelt erfolgreiche Ansätze der Arbeitskräftesicherung im Verband. Wenn Sie sich angesprochen fühlen und Ihre eigene Erfolgsgeschichte mit uns teilen möchten, dann melden Sie sich bei uns.