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#drk_im_blick | „Mich bewegt zu sehen, wie Menschen die Beratung verlassen. Als wäre eine Zentnerlast von ihren Schultern genommen.“

Anja Heidler, 37 Jahre, ist Schuldner- und Insolvenzberaterin im DRK KV Nürtingen. Überschuldung bedeute eine hohe psychische Belastung, sagt sie. Hilfslosigkeit und Resignation seien oft die Folge. Viele Menschen gäben sich einfach auf. Ein Gespräch über die Gründe für finanzielle Not und wie Beratung helfen kann.

Wie viele Mitarbeitende sind in Ihrem Team und wie sieht Ihr Alltag in einer Schuldnerberatungsstelle aus?

Unsere Beratungsstelle hat zwei Mitarbeitende. Wir arbeiten im Landkreis Esslingen in einer Kooperation mit dem Diakonischen Bezirkswerk und dem dortigen Landratsamt. Insgesamt gibt es fünf Beratungsstellen.

Die Beratung beginnt immer mit einem Starterset, das ist ein Fragebogen der den Namen, den Wohnort, das Einkommen und den Familienstand erfasst. Außerdem geben die Ratsuchenden an, welche Ausbildung sie haben und wie viele Kinder mit ihnen im Haushalt leben. Hinzu kommt ein klassischer Haushaltsplan: Auf der einen Seite stehen das Einkommen (oder die Leistungen des Jobcenters) nebst Kindergeld, auf der anderen Seite die Ausgaben für Miete, Versicherungen, mögliche Ratenzahlungen, Ausgaben für Nahrungs- und Genussmittel und Handykosten. Wir benötigen außerdem noch eine grobe Aufstellung der Gläubiger*innen, um festzustellen, wie viele Schulden vorhanden sind.

Es ist uns wichtig, dass sich die Menschen im Vorfeld ihrer Beratung mit ihrer Situation auseinandersetzen und erkennen, wo das Problem liegt. Sollten wir feststellen, dass der Grundbedarf des täglichen Lebens nicht zur Verfügung steht, bitten wir die Ratsuchenden kurzfristig zu einem Erstgespräch. In diesem stellen wir sicher, dass zumindest die Zahlung von Miete und Strom gewährleistet ist. Ansonsten arbeiten wir im Landkreis mit einer Warteliste, die sich über mehrere Monate erstreckt, weil der Bedarf so groß ist. Wir schauen zudem, ob bereits ein Pfändungsschutzkonto besteht, damit die Betroffenen über einen bestimmten Grundbetrag monatlich verfügen können, der ihr Überleben sichert.

Woher kommt für Betroffene, der Impuls sich an eine Beratungsstelle zu wenden?

Wir erleben häufig, dass sich viele der Betroffenen aus sich heraus an uns wenden. Es kommt aber immer wieder auch vor, dass sich Lebenspartner*innen oder das familiäre Umfeld an uns wenden und sagen: „Wir brauchen jetzt Hilfe, es geht nicht mehr.“ Zum persönlichen Erstgespräch benötigen wir dann alle relevanten Unterlagen (Girokontoauszüge, den Mietvertrag, den Arbeitsvertrag sofern vorhanden, Versicherungsverträge, den Nachweis über ein Auto oder möglicherweise noch vorhandenes Vermögen, die Gehaltsabrechnung oder den Bescheid des Jobcenters). Dann sehen wir uns an, woher die Probleme kommen und prüfen, ob eine Privatinsolvenz in Frage kommt oder die Vereinbarung von Ratenzahlungen nochmals zu einer Entschärfung der Situation führen kann. In manchen Fällen liegt auch eine Suchterkrankung oder eine psychische, bzw. physische Erkrankung vor. Hier schauen wir uns dann an, wie akut die Situation ist und welche Hilfestellung wir bieten, bzw. an welche

Angebote wir verweisen können. Eine Insolvenz dauert insgesamt drei Jahre, diese Zeit braucht der oder die Betroffene möglicherweise gleichermaßen, um gesundheitlich wieder auf die Beine zu kommen. Danach kann der oder diejenige wieder ohne schulden neu starten. Es kommt aber auch vor, dass wir suchterkrankte Klient*innen zunächst in die zuständige Suchtberatung übersenden (müssen). Ich erinnere mich beispielsweise an eine junge Mutter, deren Kind bereits entzogen wurde, die offensichtlich betrunken vor mir saß. Eine Beratung macht in solchen Fällen keinen Sinn. Hier helfen wir zunächst mit dem Kontakt und der Weitervermittlung in die Suchtberatung weiter. Die Betroffenen müssen sich nüchtern ihren Problemen stellen. Erst dann können wir mit unserer Arbeit sinnvoll unterstützen.

Man spürt, dass Ihnen die Menschen am Herzen liegen. Was genau treibt Sie an?

Betroffene, die beispielsweise durch eine Suchterkrankung oder infolge von psychischen Problemen in finanzielle Not geraten, verlieren häufig komplett den Halt. Freunde wenden sich ab, auch das familiäre Umfeld ist schnell belastet. Ohne jede Unterstützung können diese Menschen die Situation nicht mehr bewältigen. Wir können an dieser Stelle helfen und eine Perspektive geben. Aber die Betroffenen müssen bereit sein, sich helfen zu lassen und Unterstützung anzunehmen. Sie müssen die Hilfe wollen. Überschuldung kann jede und jeden treffen. Oft sind es Menschen, die ohne Schuld in diese Situation geraten sind, beispielsweise durch Krankheit oder Arbeitsplatzverlust. Vor allem möchten wir hier im Team auch junge Menschen unterstützen und ihnen eine Zukunft ohne Schulden eröffnen.

Wer kommt in Ihre Beratungsstelle? Was sind die hauptsächlichen Gründe für Überschuldung?

In die Beratung kommt ein Querschnitt der Bevölkerung. Zu den Gründen zählen meist Konsum, Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Scheidung, Trennung, der Übergang in die Rente und tatsächlich auch einfach weniger Einkommen. Also die Betroffenen verdienen nicht mehr genug, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Ein Problem ist sicher auch, dass die Mieten im Verhältnis zu den Einkommen immer teurer werden.

Das hat zur Folge, dass Menschen ihre finanzielle Situation nicht mehr im Blick haben?

Ja, es ist aber auch so, dass manche ihre Situation bewusst ausblenden. Sie leben nach dem Motto: „Ich gehe jeden Tag arbeiten, das muss drin sein“ oder „Man lebt nur einmal, wer weiß, was morgen ist“. Manche möchten auch mit anderen Menschen, die mehr Geld zur Verfügung haben, mithalten. In jüngeren Jahren geht es dabei häufig um Markenkleidung und das Markenhandy nebst Zubehör. Später kommt dann das Auto hinzu. Gerade bei Handys und Handyverträgen merkt man, dass vielen gar nicht klar ist, was wiederkehrende Kosten sind. Diese Verträge zählen daher auch zu den häufigsten Überschuldungsfallen.

Um welche Summe geht es?

Die Bandbreite ist groß, pauschale Aussagen sind kaum möglich. Aktuell habe ich beispielsweise einen Fall mit drei Gläubigern und Schulden in Höhe von 5.000 Euro, einen weiteren Fall mit 124 Gläubigern mit etwa 50.000 Euro Schulden und einen Fall mit zwölf Gläubigern und rund 100.000 Euro Schulden. Es gibt keine durchschnittliche Größe an dieser Stelle.

Ist die Covid-19-Pandemie für Sie in der Schuldner- und Insolvenzberatung spürbar?

Derzeit noch nicht, aber wir erwarten, dass die Auswirkungen noch auf uns zukommen werden. Wir vermuten, dass künftig die Mittelschicht stärker betroffen sein könnte, beispielsweise dann, wenn es noch einmal zu Phasen von Kurzarbeit kommt. Dann schwinden nicht selten über einen längeren Zeitraum die finanziellen Rücklagen und die Raten für das Haus oder das Auto können nicht mehr bezahlt werden. Aber wir hoffen natürlich, dass wir uns irren.

Was bedeutet Überschuldung für die Betroffenen?

Überschuldung bedeutet eine hohe psychische Belastung. Sie geht häufig mit Hilflosigkeit und Resignation einher, die Betroffenen fühlen sich überfordert und stecken den Kopf in den Sand. Viele geben sich einfach auf, pflegen sich nicht mehr oder machen auch ihre Briefe nicht mehr auf.

Das zu erleben, muss sehr belastend sein. Macht das auch etwas mit Ihnen?

Natürlich. Die Schicksale der Menschen und ihre Sorgen gehen uns nah. Dennoch gelingt es uns die Distanz zu wahren. In besonders schwerwiegenden Fällen tauschen wir uns im Team nochmals untereinander aus und überlegen gemeinsam, wie wir weiter unterstützen können. Auf diese Weise können wir das Erlebte auch verarbeiten. Die Distanz ist wichtig, anderenfalls könnten wir nicht helfen. Uns liegt am Herzen, dass die Menschen weitermachen. Dass sie nicht aufgeben. Dass sie Verantwortung übernehmen – für sich und ihr Leben.

Gehen mit Überschuldung auch Schamgefühle einher?

Unbedingt. Es ist nach wie vor ein Tabuthema. Dadurch, dass aber die Verkürzung des Insolvenzverfahrens vor der Umsetzung auf politischer Ebene diskutiert und auch in den Medien transportiert wurde, hat sich jedoch schon etwas zum Positiven verändert. Das Thema Überschuldung und Schulden wird Schritt für Schritt gesellschaftsfähiger. Das ist sehr wichtig, damit der Gedanke des Versagens, der bei Überschuldung häufig mitschwingt, endlich in den Hintergrund tritt. Denn klar ist, diese Situation kann jede und jeden treffen. Beispielsweise durch eine physische oder psychische Erkrankung.

Was würde sich verbessern, wenn das Thema stärker in das Licht der Öffentlichkeit rücken würde?

Wir erhoffen uns weitere Beratungsstellen im ganzen Land, damit den Betroffenen schneller geholfen werden kann und sie ihr Leben wieder selbstständig in die Hand nehmen können. Es ist wichtig, dass die Menschen den Mut nicht verlieren.

Wie zeigt sich beispielsweise der Grundsatz der Menschlichkeit in Ihrer täglichen Arbeitsweise?

Uns hier im Team ist wichtig, dass wir allen Menschen gleichermaßen offen begegnen. Dass wir die Betroffenen in ihrer Vielfalt annehmen und ihnen die Unterstützung geben, die sie dringend brauchen.

Welchen beruflichen Hintergrund haben Sie? Warum haben Sie sich bei der Berufswahl für die Schuldnerberatung entschieden?

Ursprünglich habe ich Sozialpädagogik und Religionspädagogik auf Diplom studiert und bin eingesegnete Diakonin in der Evangelischen Kirche. Für das DRK war ich zunächst in der Sozialarbeit tätig. Später habe ich innerhalb des Hauses in die Schuldnerberatung gewechselt. Meine Aufgabe lässt sich gut mit Familie vereinbaren, das ist für mich als alleinerziehende Mutter (von drei Kindern) wichtig. Am DRK liebe ich besonders das Bunte, also die Vielfalt der Menschen und Aufgaben, und, dass wir als Gemeinschaft für zentrale Werte einstehen.

Welche schönen Momente bestärken Sie, das Richtige zu tun?

Mich bewegt zu sehen, wie Menschen die Beratungsstelle verlassen. Man kann ihre Erleichterung deutlich spüren. Manchmal hat man den Eindruck, man kann sie auch sehen. Als wäre eine Zentnerlast von ihren Schultern genommen. Viele sprechen aber auch aus, was sie fühlen. Sie bedanken sich und sagen: „Allein hätte ich es nie geschafft.“

Gibt es einen Gedanken, den Sie teilen möchten? Liegt Ihnen etwas besonders am Herzen?

Es ist schön zu sehen, dass das Thema Schulden/ Überschuldung zunehmend in den Blick rückt. Auch dieses Gespräch zeigt, dass sich etwas zum Positiven verändert. Uns hier im Team ist wichtig, dass die Botschaft deutlich wird: Überschuldung hat nichts mit persönlichem Versagen zu tun. Betroffene dürfen nicht aufgeben. Es gibt Hilfe in der Beratung vor Ort.

Redaktionsteam
Heike HarenbergNatascha Baumhauer

In Kooperation mit
Jan-Niklas Mehler

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Das Interview ist Teil des Projekts „DRK erleben“ und wird mit Mitteln der GlücksSpirale gefördert. 

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Anja Heidler, Schuldner- und Insolvenzberaterin im DRK KV Nürtingen