Der Arbeitskräftemangel holt uns ein. Eine integrierte Beschäftigungspolitik ist notwendig.

Seit Jahren zeichnen sich Personalengpässe im sozialen Sektor ab und bislang fehlt ein strategischer Ansatz, der diesem Trend entgegenwirkt. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung sind wesentliche Ursachen für den Arbeitskräftemangel grundsätzlich erkannt und relevante Stellschrauben identifiziert. Allerdings offenbaren die geplanten Maßnahmen, dass die Bundesregierung auf punktuelle Lösungen setzt. Ein langfristiges und nachhaltiges Konzept fehlt weiterhin. Für die Zukunftsfähigkeit sozialer und gesundheitsbezogener Angebote braucht es ganzheitliche Lösungen, die den sozialen Sektor in seiner beruflichen und strukturellen Vielfalt in den Blick nehmen.

Was auf dem Spiel steht

Der soziale Sektor ist mit seinen vielfältigen Angeboten und Diensten Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Je nach Definition arbeiten zwischen sechs und 15 Prozent der in Deutschland Beschäftigen in einem sozialen oder gesundheitlichen Beruf. In Anlehnung an die mittlerweile geläufige Bezeichnung MINT-Berufe (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) wird hier häufig von SAGE-Berufe gesprochen. Dies steht für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege, Erziehung und Bildung. Die engagierten und hochqualifizierten Personen, die in diesen Berufen tätig sind, füllen die vielfältigen sozialen und gesundheitsbezogenen Angebote vor Ort mit Leben. Sie sorgen dafür, dass allen Menschen die Hilfe und Unterstützung zukommt, die sie benötigen. Bedarfe nach Pflege, Betreuung und sozialer Beratung sind in allen Gesellschaftsschichten und Altersklassen vorhanden. Doch diese Angebote sind zunehmend in Gefahr. Denn wo Personal fehlt bzw. Beschäftigte nicht oder nicht in ausreichendem Maße gewonnen werden können, drohen empfindliche Einschränkungen in den Leistungen. Schon heute kommt es vor, dass etwa Kitas mit Teilschließungen auf fehlendes Personal reagieren müssen und Betreuungsanfragen nicht mehr bedienen können. Hier zeigt sich ein bedrohlicher Abwärtstrend. „Weiße Flecken“, Gebiete mit wenig sozialen Angeboten für vulnerable Gruppen sind in manch ländlichen und infrastrukturschwachen Gebieten bereits heute Realität. Der Gesellschaft droht ein spürbarer Versorgungsengpass.

Arbeitskräftemangel als Ergebnis vieler Ursachen…

Der steigende Personalbedarf im sozialen Sektor ist immer auch eine Konsequenz politischer Maßnahmen. Beispielhaft ist hier der Anspruch auf Ganztagskinderbetreuung für Grundschulkinder ab 2026 zu nennen. Auch wenn hier flankierende Maßnahmen greifen und zusätzliche Mittel bereitgestellt werden: Insgesamt steigt der Bedarf an Arbeitskräften weiter, während das Arbeitskräfteangebot sinkt. Darüber hinaus führen Konkurrenzeffekte sowohl zwischen Arbeitgebern als auch ganzen Arbeitsfeldern zu einem Ringen der Einrichtungen um Mitarbeitende. So droht sich der Arbeitskräftemangel innerhalb des sozialen Sektors nur von einem Arbeitsfeld ins andere zu verschieben. Gesellschaftlich betrachtet ist dies fragwürdig.

Durch die demografische Entwicklung stehen zunehmend weniger Arbeitskräfte zur Verfügung. Fälschlicherweise gilt der soziale Sektor als wenig attraktiv, schlecht bezahlt und SAGE-Berufe als nicht sonderlich erstrebenswerte Berufswege. Dabei bleibt häufig unbeachtet, dass die Tätigkeiten selbst abwechslungsreich, qualitätsvoll und sinnstiftend sind. Trotz der unabdingbaren gesellschaftlichen Notwendigkeit, Kranke und Ältere zu pflegen, Menschen in Notlagen zu helfen, Kinder in den ersten wichtigen Jahren ihrer Entwicklung zu begleiten, vermissen Beschäftigte die gesellschaftliche Wertschätzung und Anerkennung für ihre tägliche Arbeit. Hier kann angesetzt werden. Ziel sollte sein, die vom Statistischen Bundesamt in den letzten Jahren verzeichneten Zuwächse an Auszubildenden im Bereich der Pflege sowie in den Erziehungsberufen der letzten Jahre weiter zu steigern. Der positive Trend reicht nicht aus, um die Abgänge zu kompensieren – insbesondere mit Blick auf den anstehenden Renteneintritt der so genannten Baby-Boomer sind Sorgen angebracht.

Die Zeit drängt, wenn die Attraktivität von Beschäftigung im sozialen Sektor gesteigert werden soll. Die oft herausfordernden Arbeitsbedingungen infolge knapper Personalkapazitäten werden durch ausbleibende Nachwuchskräfte weiter verstärkt und begünstigen so eine zunehmende Personalfluktuation sowie eine schleichende Abwanderung aus dem Sektor.

…und verpasster Chancen

Die Problemlagen, mit denen sich der soziale Sektor arbeitsfeldübergreifend konfrontiert sieht, sind das Ergebnis langjähriger Entwicklungen und verpasster Chancen. Das gilt insbesondere für Fragen der strukturellen Finanzierung und Personalbemessung sowie langfristig angelegter Strategien zur Nachwuchskräftesicherung. Trotz vieler Ansätze stehen einer Weiterentwicklung von Bildungs- und Ausbildungskonzepten sowie der Schaffung neuer Zugänge in SAGE-Berufe föderale Strukturen entgegen. Einstiegsmöglichkeiten variieren und sind wenig transparent. Wer sich für einen Berufszugang interessiert, verheddert sich nur allzu leicht in einem Dickicht an unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Zuständigkeiten.

Wege des Berufseinstiegs müssen nicht neu erfunden, jedoch möglichst einheitlich geregelt und für Interessierte niedrigschwellig zugänglich gemacht werden. Zur Gewinnung neuer Mitarbeitender sollten neue Wege beschritten werden, die nicht klassischen Karrierewegen entsprechen. Um Quereinstiege zu fördern, braucht es entsprechende Maßnahmen. Ein verlassener erster Bildungsweg und eine anschließende, fachliche Umorientierung können einen Mehrwert für Beschäftigte und Arbeitgeber bieten. Hierfür notwendige Nachqualifizierungen müssen politisch gesichert werden, um den zweiten Karriereweg zu einem gleichberechtigten und anerkannten Berufszugang zu gestalten. Mit Blick auf das im Quereinstieg liegende Potenzial sollten möglichst unterschiedliche Personengruppen angesprochen werden.

Auch ist die Motivation potenzieller Arbeitgeber hoch, die Arbeitsbedingungen nachhaltig zu verbessern und so dem zunehmenden Arbeitskräftemangel zu begegnen. Die Problemlagen sind jedoch zu vielschichtig, um mit einfachen Handgriffen im bestehenden Sozialsystem substanzielle Verbesserungen herbeizuführen. Die Mitwirkung von Ländern und Kommunen ist entscheidend, da viele Leistungen auf diesen Ebenen ausgestaltet und finanziert werden. Das Beispiel des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes (SodEG), mit dem der Bund die Finanzierung sozialer Dienste und Einrichtungen bei pandemiebedingter Schließung garantiert hat, zeigt, dass bundespolitischer Gestaltungswille im Sinne der Daseinsvorsorge vorhanden ist und wirkungsvoll sein kann.

Jetzt ist es Zeit für eine integrierte Beschäftigungspolitik

Es gilt jetzt, den sozialen Sektor zukunftssicher zu machen. Die im Koalitionsvertrag vereinbarten Vorhaben sind ein erster Schritt. Geplante Vorhaben zur Aufwertung von Pflege- und Erziehungsberufen sowie die angekündigten Maßnahmen in der (Aus-)Bildungspolitik und bei der beruflichen Weiterbildung zeigen, dass die Regierungsparteien sich dem Arbeitskräftemangel – wenn auch nur in einzelnen Arbeitsfeldern des sozialen Sektors – annehmen.

Allerdings scheint der Fokus der Bundesregierung ausschließlich auf der Arbeitskräftegewinnung und Nachwuchsförderung zu liegen. Die ebenso wichtige Frage der langfristigen Personalbindung wird vernachlässigt. Die Herausforderung, qualifiziertes Personal im Beruf zu halten, stellt für die Arbeitsfelder des sozialen Sektors hinsichtlich der zunehmenden Arbeitsbelastung und Unzufriedenheit sowie der hohen Fluktuationsquoten ein zentrales Problem dar. Die Verbesserung von Arbeitsbedingungen muss ganzheitlich und langfristig in den Blick genommen werden. Geplante Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung dürfen zudem nicht nur auf einzelne Arbeitsfelder begrenzt sein.

Das DRK fordert in seinem Brennpunkt 02/2021 eine Stärkung der Gemeinnützigkeit im sozialen Sektor. Damit würde der Teil der Leistungserbringung gestärkt, der demokratisch verfasst ist und auf ehrenamtlichem Engagement beruht. Gleichzeitig ist er deutlich häufiger tarifgebunden und setzt eher auf Mitbestimmung als gewerbliche Anbieter. Insofern ist auch die Vorrangstellung für Gemeinnützige ein Baustein für gute Arbeit im sozialen Sektor.

Die Sicherung der sozialen Infrastruktur sollte daher dauerhaft Ziel der Bundesregierung werden. Ihre Leistungen sind gesellschaftlich notwendig. Sie sind derzeit in hohem Maße durch den sich beschleunigenden Arbeitskräftemangel akut gefährdet. Soziale Dienste können durch eine angemessene und dauerhaft abgesicherte Finanzierung in die Lage versetzt werden, attraktive Beschäftigungsbedingungen zu gewährleisten. Für die langfristige Planungssicherheit beim Personalschlüssel, für soziale Dienste und Einrichtungen sind kontinuierliche Pauschalfinanzierungen nötig. Die strukturelle und nachhaltige Verbesserung von Arbeitsbedingungen für Beschäftigte – u.a. durch ein modernes Arbeitsumfeld sowie eine angemessene Bezahlung, die den Sektor insgesamt stärkt – ist für die Gewinnung neuer Arbeitskräfte und langfristige Personalbindung in den Einrichtungen essenziell.

Übergreifend denken und handeln

Zunächst ist die Entwicklung einer integrierten Strategie im Sinne einer Beschäftigungspolitik für den sozialen Sektor notwendig. Dieser Brennpunkt bietet dafür erste inhaltliche Eckpunkte. Im Prozess ist die kontinuierliche Einbindung von Wissenschaft und Praxis geboten.

Mit kleinteiligen, punktuellen Politikansätzen lässt sich der Arbeitskräftemangel nicht aufhalten – im Gegenteil, es werden zunehmend Mittel und Ressourcen aufgewendet, mit denen soziale und gesundheitsbezogene Einrichtungen sich gegenseitig das knappe Personal abwerben. Der soziale Sektor muss insgesamt handlungsfähig bleiben. Nur so kann die soziale Infrastruktur aufrechterhalten, gleichwertige Lebensverhältnisse angestrebt und der gesellschaftliche Zusammenhalt gefördert werden.


1Pflegeberufe: u.a. (1) Prüfung der sozialen Pflegeversicherung, (2) Einführung und Weiterentwicklung der Personalbemessung, (3) Schließen der Gehaltslücke zwischen Kranken- und Altenpflege, (4) Attraktivitätssteigerung durch Steuervergünstigungen und Förderung einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, (5) Harmonisierung der akademischen und nicht-akademischen Ausbildung, (6) Einführung des Berufsbilds der „Community Health Nurse“, (7) Erweiterung der pflegerischen Tätigkeit um heilkundliche Tätigkeiten, (8) Ausbau der Fachkräftegewinnung aus dem Ausland und bessere Anerkennung von Berufsabschlüssen.

2Erziehungsberufe: (1) Investitionsprogramm für den Kita-Ausbau, (2) Weiterentwicklung der Kindertagespflege, (3) gemeinsame Umsetzungskoordinierung der Ganztagsbetreuung von Bund, Ländern und Kommunen und Entwicklung eines gemeinsamen Qualifikationsrahmens, (4) Entwicklung einer von Bund und Ländern gemeinsam koordinierten Fachkräftestrategie für Erziehungsberufe, (5) Schaffung eines bundeseinheitlichen Rahmens für die Erziehungsausbildung, (6) Förderung der praxisintegrierten Ausbildung.

3(Aus-)Bildungspolitik: u.a. (1) Einführung einer Ausbildungsgarantie, Schulgeldfreiheit und Vergütung von Ausbildungen, (2) Ausbau berufsbildender Schulen sowie (3) Förderung von Berufsorientierung.

4Weiterbildung: (1) Reform des Aufstiegs-BAföG, (2) Einführung eines neuen Lebenschancen-BAföG, (3) Umsetzung einer Bildungs(teil)zeit und Stärkung der Bundesagentur für Arbeit zur Verwirklichung verbesserter Beratungs- und Qualifizierungsangebote.