Mit sogenannten „Pushbacks“ werden Migrantinnen und Migranten am Grenzübertritt gehindert bzw. nach Grenzübertritt zurück über die Grenze geschoben. Ziel dieser oft gewaltsamen Maßnahmen ist es, die Betroffenen daran zu hindern, ihr Asylgesuch zu äußern und einen Asylantrag zu stellen, ihnen also den Zugang zu einem Asylverfahren zu verwehren. Ein solches Vorgehen steht im Widerspruch zum geltenden internationalen und europäischen Recht, denn es ergibt sich unter anderem aus der Genfer Flüchtlingskonvention, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Grundrechtecharta, dass es jedem Menschen möglich sein muss, in einem anderen Land Schutz vor Verfolgung zu finden. Demnach muss ein Staat Asyl gewähren, wenn ein individueller Schutzbedarf besteht und diesem nicht bereits in einem anderen Land effektiv entsprochen wird. Menschen zurückzuschieben, ohne ihr Schutzgesuch überhaupt entgegenzunehmen, ohne Betrachtung der individuellen Situation – ein solches Vorgehen verstößt gegen geltendes Recht. Nichtsdestotrotz finden Pushbacks regelmäßig an den EU-Außengrenzen statt, sei es in Polen, in Griechenland oder in Kroatien.
Gestrandet im Grenzgebiet
Im vergangenen Jahr versuchten mehrere Tausend Migrantinnen und Migranten, über die sogenannte Belarus-Route in die EU einzureisen, also nach Polen, Litauen oder Lettland. Während ein Teil von ihnen inzwischen Asylanträge in der EU gestellt hat, wurden andere gewaltsam am Grenzübertritt gehindert und strandeten an der EU-Außengrenze. Es ist davon auszugehen, dass sich immer noch mehrere hundert Menschen im polnisch-belarussischen Grenzgebiet befinden. Da die polnischen Behörden humanitären Hilfsorganisationen nur eingeschränkt Zugang zum Grenzgebiet gewähren, sind die Migrantinnen und Migranten auf sich allein gestellt, ohne Grundversorgung und nur unzureichend gegen Regen, Schnee und Kälte geschützt. Die International Organisation for Migration (IOM) geht davon aus, dass im vergangenen Jahr mindestens 21 Menschen auf der Belarus-Route ums Leben gekommen sind.
Die Arbeit unserer Schwesterngesellschaften
Aufgrund des reglementierten Zugangs zum Grenzgebiet können unsere Kolleginnen und Kollegen vom Polnischen Roten Kreuz hauptsächlich Migrantinnen und Migranten humanitär versorgen und unterstützen, die sich bereits in Polen befinden. Darüber hinaus versuchen sie, Möglichkeiten zu finden, auch die Menschen im abgeriegelten Grenzgebiet medizinisch zu versorgen und ihnen dringend erforderliche Hilfsgüter zukommen zu lassen. Das DRK ist in engem Austausch mit seinen Schwesterngesellschaften und unterstützt das Polnische Rote Kreuz sowie das Litauische Rote Kreuz mit Hilfsgütern wie Hygienesets, Kleidung, Wärmedecken und medizinischer Ausrüstung. In Belarus ist das Belarussische Rote Kreuz im Einsatz, leistet humanitäre Hilfe und versorgt Migrantinnen und Migranten unter anderem mit Kleidung, Nahrungsmitteln und Hygienesets.
Doch insbesondere in Polen wird die Arbeit vor Ort erschwert, da das Grenzgebiet nicht frei zugänglich ist und nur zusammen mit der Grenzpolizei betreten werden darf. Die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften (International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies - IFRC) appellierte deswegen bereits im November 2021 an die polnischen Behörden, humanitären Organisationen unbedingten Zugang zu den Betroffenen in der Grenzregion zu gewähren. Auch das EU-Büro des Roten Kreuzes mahnte die Unabdingbarkeit des Zugangs zu humanitärer Versorgung und zu einem fairen Asylverfahren für die Betroffenen an. DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt rief dazu auf, den Zugang zum Grenzgebiet herzustellen, so dass den Betroffenen unabhängig von ihrem rechtlichen Status humanitäre Hilfe gewährt werden könne.
Verschiedene Signale aus Berlin und Brüssel
„Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden.“ – so heißt es im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung. Sie wolle sich für eine EU einsetzen, die ihre Werte und ihre Rechtsstaatlichkeit nach innen wie außen schütze und entschlossen für sie eintrete. Als größter Mitgliedstaat werde Deutschland seine besondere Verantwortung in einem dienenden Verständnis für die EU als Ganzes wahrnehmen. Im Dezember rief die neue Innenministerin Nancy Faeser zur Einhaltung der rechtlichen Vorgaben an den EU-Außengrenzen auf. Hilfsorganisationen müssten jederzeit Zugang zu Menschen im Grenzgebiet haben, forderte sie weiter. Und erst am vergangenen Freitag ließ sie bei einem Treffen mit der EU-Innenkommissarin Ylva Johansson verlauten: „Wir können uns vorstellen, auf dem Weg zu einem gemeinsamen, funktionierenden EU-Asylsystem mit einer Koalition der aufnahmebereiten Mitgliedstaaten voranzugehen.“
Klare und entschiedene Signale aus Berlin sind momentan wichtiger denn je. Denn neben dem im September 2020 vorgeschlagenen New Pact on Migraton and Asylum wird in Brüssel gerade ein aktueller Vorschlag der EU-Kommission für die Situation im belarussischen Grenzgebiet diskutiert. Die angrenzenden Mitgliedsstaaten sollen ausnahmslos beschleunigte Asylverfahrens an den Grenzen durchführen können und die in der EU-Aufnahmerichtlinie vorgegebenen Unterbringungsstandards sollen dabei keine Anwendung mehr finden. Dabei ist zu befürchten, dass besondere Schutzbedarfe in diesem Rahmen nicht zuverlässig identifiziert bzw. nicht ausreichend berücksichtigt werden können. Die humanitäre Notlage, in der sich die Migrantinnen und Migranten bereits jetzt befinden, würde sich bei Umsetzung dieser Vorschläge weiter verschärfen.
Für das Rote Kreuz gilt: Hilfe einzig nach dem Maß der Not
Für unsere Arbeit als humanitäre Hilfsorganisation ist es elementar, dass ungehinderter Zugang zu den Menschen in Not besteht. Nur dann können wir unserem Auftrag gerecht werden, jedem Menschen zu helfen, der unsere Hilfe benötigt. Einzig die humanitäre Schutzbedürftigkeit ist dabei entscheidend, nicht der Rechtsstatus; dies gilt auch in Gewahrsam und an den Grenzen. Zudem muss das internationale und europäische Recht an den Grenzen eingehalten werden. Migrantinnen und Migranten müssen ihr Recht wahrnehmen können, ein faires und rechtsstaatliches Asylverfahren zu durchlaufen, in dem ihr Schutzbedarf umfassend geprüft wird.
Wir werden uns auch im gerade begonnenen Jahr weiter dafür einsetzen, sei es im Gespräch mit den politischen Entscheidungsträgern als auch bei der Arbeit vor Ort, dass die rechtlichen Standards im Umgang mit Migrantinnen und Migranten gewahrt werden. Denn nicht zuletzt ist dies auch eine Grundvoraussetzung dafür, dass unsere Kolleginnen und Kollegen vor Ort ihre Arbeit so ausüben können, wie es uns unsere Grundsätze vorgeben.