Quo vadis Deutschland? Auswirkungen und Szenarien der Covid-19 Pandemie auf Migration und Integration

Die Covid-19 Pandemie hat sich negativ auf alle integrationspolitischen Bereiche ausgewirkt: den Zugang zu Gesundheit, Wohnen, Bildung, Ausbildung und Arbeit. Doch wie beeinflussen diese Entwicklungen unsere gemeinsame Zukunft? Wie könnte Integration in Deutschland im Jahr 2030 aussehen? Die von der Stiftung Mercator geförderte Studie „Auswirkungen und Szenarien für Migration und Integration während und nach der COVID-19 Pandemie“ hat sich diesen Fragen gestellt, die bisherigen Tendenzen nach über einem Jahr der Covid-19 Pandemie untersucht und mittels eines Scenario-Buildings in die Zukunft verlängert, um auch in unsicheren Zeiten konkrete Handlungsempfehlungen generieren zu können. Das Fazit der Studie: Die Integrationserfolge der letzten Jahre stehen auf dem Spiel, wenn wir nicht entsprechend gegensteuern. Dafür bedarf es eines Engagements in allen Ressorts und auf allen politischen Ebenen.
[Ein Gastbeitrag von Marlene Leisenheimer, Yasemin Bekyol und Petra Bendel / Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg]

Welche aktuellen Tendenzen beobachten wir und welche Lösungsansätze lassen sich generieren?

Mobilität

Grenzschließungen zu verschiedenen Zeitpunkten in fast allen Staaten der Welt haben zu erheblichen Unsicherheiten und Ungleichheiten geführt. (Benton 2020) Schutzsuchende waren zwar rechtlich von Einreisebeschränkungen ausgenommen, hatten aber oftmals keinen Zugang mehr zu EU-Mitgliedstaaten. (Ghezelbash 2020, Statistisches Bundesamt 2020) Zudem gibt es bis heute Einschränkungen beim Resettlement-Programm, bei humanitären Aufnahmeprogrammen und der Familienzusammenführung. (Mediendienst Integration 2020) Gleichzeitig wurden Restriktionen für Arbeitsmigrant:innen weitestgehend vermieden. (Fokken 2020) Es gilt zu betonen, dass Mobilität auch in Krisenzeiten verlässlich und sicher gestaltet werden sollte, insbesondere für Schutzsuchende.

Gesundheit

Die Covid-19-Pandemie hat strukturelle und migrationsspezifische Barrieren, also etwa mangelnde Sprachkenntnisse oder mangelnde Kenntnisse der Rechtslage sowie der Versorgungsstrukturen, welche bereits zuvor bestanden, verdeutlicht und verstärkt. Insbesondere die Übermittlungspflicht öffentlicher Einrichtungen wie des Gesundheits- oder Sozialamts an Ausländerbehörden hält Migrant:innen ohne rechtlichen Aufenthaltsstatus davon ab, Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen. (Mediendienst Integration 2020) Mithilfe beispielsweise einer flächendeckenden Einführung von anonymen Gesundheitskarten oder Krankenscheinen könnte dies vermieden werden. (Ludwig 2020) Niedrigschwellige, einfach zugängliche und vor allem mehrsprachige Informationsangebote, aufsuchende Beratungsangebote, mobile Test- und Impfkampagnen können zudem den Zugang zur Gesundheitsversorgung vereinfachen. (Gollnow 2021, Günther 2021) Der Zugang zu psychologischen und psychiatrischen gesundheitlichen Diensten sollte grundsätzlich, besonders aber im Zusammenhang mit der aktuellen Krise, vereinfacht werden.

Wohnen

In Unterkünften für Geflüchtete und Saisonarbeiter:innen liegt das Infektionsrisiko im Schnitt bei 17% und kann im Rahmen von Kollektivquarantänen, wie sie vielfach durchgeführt wurden, auf bis zu 67% steigen. (Bozorgmehr et al. 2020, Medibüros/Medinetze 2020) Dies liegt vor allem an einem Mangel an Hygieneartikeln und Informationen sowie an nicht einhaltbaren Distanzregeln. (Bozorgmehr et al. 2020) Kontaktsperren haben zudem für viele Geflüchtete und Asylsuchende eine sehr eingeschränkte Beratung etwa im Asylverfahren nach sich gezogen; Isolierung leistete Stigmata und Diskriminierung Vorschub. (Taz Talk #31 meets DeZIM 2020, DIMR 2020) Die prekären Hygienebedingungen in den Unterkünften sind während der Pandemie aber auch öffentlichkeitswirksam geworden und haben teilweise zu mehr Schutz der Bewohner:innen geführt. So sind in einigen Unterkünften die Zimmer nicht mehr voll belegt, es wurden mehr Kantinen und Gemeinschaftsräume eingerichtet und in Köln und Potsdam wurde der Beschluss gefasst die Sammelunterkünfte komplett aufzulösen. (Taz Talk #31 meets DeZIM 2020, Perspektive Online 2021) Diese Maßnahmen der Entzerrung und Dezentralisierung sollten ausgeweitet werden. Außerdem sollten auch in Krisenzeiten die Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften gelten. (BMFSFJ 2021)

Bildung und Ausbildung

Pandemiebedingte Schulschließungen und die Verlagerung auf Online-Unterricht haben bereits bestehende Ungleichheiten im Bildungssystem deutlich gemacht und verstärkt. (GEW 2020a) Es besteht ein hohes Risiko, dass sozial benachteiligte Kinder, darunter viele Kinder aus zugewanderten Familien, im Laufe der Pandemie schwerwiegende Einbußen im Bildungserfolg zu tragen haben. (Rude 2020) Viele dieser Schüler:innen können aufgrund eines Mangels an Hard- und Software sowie fehlenden Internetzugangs nicht in vollem Maße an den Online-Angeboten teilnehmen; insbesondere diejenigen, die in Unterkünften für Geflüchtete und Asylsuchende leben. (Kollender 2020, Rude 2020) Das durch Lockdowns und Quarantänen reduzierte Angebot ehrenamtlicher Unterstützung trug zusätzlich zu einer erschwerten Teilnahme der Kinder an der Schulbildung bei. (Lauble 2020) Ähnlich verhält es sich auch mit den Integrationskursen. (GEW 2020b) Um dauerhafte Auswirkungen von ohnehin im Bildungssystem benachteiligten Gruppen abzuwenden, sollte der Zugang zur Digitalisierung vereinfacht, entbürokratisiert und das Engagement Ehrenamtlicher zur Unterstützung von Lehrer:innen, Schüler:innen und Eltern weiter gefördert werden.

Arbeit

Trotz Maßnahmen wie Kurzarbeit oder Boni zur Abmilderung der ökonomischen Krise zeigt sich eine überproportional negative Bilanz der Corona-Pandemie für Migrant:innen. So stieg die Erwerbslosigkeit unter Zugewanderten, darunter in besonderem Maße unter Geflüchteten, während der Pandemie stärker als für Personen ohne Zuwanderungsgeschichte. (Brücker et al. 2020, Brücker et al. 2021) Bereits vor der Pandemie stellten mangelnde Sprachkenntnisse, unterschiedliche Bildungsniveaus, sowie eine erschwerte Bildungs- und Berufsanerkennung Hürden für Drittstaatsangehörige dar. (Giesing und Hofbauer 2020) Wenngleich die Arbeitsmarktintegration vor der Pandemie recht gut gelang, wurde schnell klar, dass Migrant:innen besonders häufig in von der Corona-Krise am stärksten betroffenen Sektoren wie dem Hotel- und Gaststättengewerbe oder auch in Leiharbeit, Zeitarbeit oder Minijobs, vielfach ohne die Möglichkeit zur Heimarbeit arbeiteten. (Vallizadeh 2020, Bathke 2020, ILO 2020b) Die Krise hat gleichzeitig überdeutlich gemacht, dass Migrant:innen und Geflüchtete vielfach in Sektoren arbeiten, die als systemrelevant gelten. (Fasani und Mazza 2020) Es besteht weiterhin ein Lohnunterschied zwischen Menschen ohne Migrationserfahrung und (Nachkommen von) Eingewanderten, darunter in besonderem Maße bei zugewanderten Frauen, insbesondere bei jenen, die in häuslicher Pflegearbeit tätig sind. (ILO 2020a) Um diesen Problemen zu begegnen sind gesetzliche Förderungsmaßnahmen sowie gesetzliche Regelungen, die gerechtere und sicherere Arbeitsbedingungen befördern, nötig. Zusätzlich bedarf es einer strikten Zertifizierung von Anwerbeagenturen, insbesondere für den häuslichen Pflegesektor, und einer Vereinfachung von Qualifizierungs- und Nachqualifikationsmaßnahmen.

Rassismus und Diskriminierung

Seit Beginn der Pandemie werden vor allem in sozialen Netzwerken verstärkt aggressive, diskriminierende und sogar rassistische Diskurse gegenüber Geflüchteten und Migrant:innen geführt. Die Suche nach Sündenböcken richtet sich gegen marginalisierte Gruppen, die dadurch Zielscheibe von Hassrede, Gewaltakten und weiteren Formen der Ausgrenzung werden. (Kollender 2020) Wie der Jahresbericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes beleuchtet, haben die Beratungsanfragen zu Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft oder aus rassistischen Gründen im Vergleich zu 2019, im Jahr 2020 um 78% zugenommen. (2021) Daher braucht es auf allen Ebenen, insbesondere aber auf der Bundesebene, ein entschiedenes Vorgehen gegen Rassismus und Diskriminierung, sowohl reaktiv als auch präventiv. Dazu gehören unter anderem mehr rassismuskritische Bildungsarbeit für Schüler:innen, wie auch für Arbeitnehmer:innen, und eine schlagkräftige und strategische Bündelung der unlängst beschlossenen 89 Einzelmaßnahmen „zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“. (Bundesregierung 2020)

Ausblick

Die Pandemie hat erneut die Tatsache ins Bewusstsein gerückt, dass Migrant:innen und Geflüchtete keine homogene Gruppe sind. Daher braucht es auch in Zukunft die Stärkung von inklusiven, kommunikativen und bereichsübergreifenden Maßnahmen. Die freie Wohlfahrtspflege kann hier als Vorbild dienen. Im Querschnitt sind Mehrsprachigkeit und Digitalisierung wichtig. Insbesondere die Bereiche Bildung und Arbeit sowie bürgerschaftliches Engagement können durch Digitalisierung gefördert werden. Einbürgerungsinitiativen, etwa auch online, sind wichtig für Zugehörigkeit. Debatten über kommunales Wahlrecht für Drittstaatsangehörige treiben zudem wichtige Diskurse voran. Außerdem hat nicht zuletzt die Pandemie erneut die Notwendigkeit verdeutlicht, dass eine Diversitätssensibilität und der Ausbau von Antidiskriminierungsmaßnahmen in den o.g. Politikfeldern, in Behörden, bei Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen, in Bildungsinstituten sowie Gesundheitseinrichtungen notwendig ist.

Die Szenarien sowie weitere Ressourcen und die Studie finden Sie unter www.covid-integration.fau.de

Literatur