Präsentismus in der Pflege: Die versteckten Kosten des "Weitermachens" (Teil 2)

Untersuchungen zeigen ein besorgniserregendes Muster im Gesundheitswesen: Fast die Hälfte (49 %) der beruflich Pflegenden kommt zur Arbeit, wenn sie krank sind - und das regelmäßig. Dabei geht es nicht nur um Hingabe und Verantwortungsbewusstsein gegenüber den zu pflegenden Menschen. Dahinter steckt ein komplexes Geflecht aus Schuld, Verpflichtung und systemischem Druck, was sowohl das Pflegepersonal als auch die zu Pflegenden gefährdet. Eine kürzlich veröffentlichte Studie (Gerlach et al. 2024) gab den Anlass zu fragen, wie dem entgegengewirkt werden könnte.

Es sind vielschichtige Lösungen gefragt

Im Mittelpunkt der Handlungsansätze gegen Präsentismus steht die Erkenntnis, dass wirksame Veränderungen mehrere, ineinandergreifende Maßnahmen erfordern. Dazu muss die Entwicklung von Führungsqualitäten des Pflegemanagements tief in die tägliche Praxis eingebettet sein. Dies bedeutet, über theoretische Schulungen hinauszugehen und praktische, realistische Strategien zu entwickeln, die das Pflegemanagement sofort umsetzen kann.

Technologie spielt dabei eine entscheidende Rolle, beispielsweise in Form von Frühwarnsystemen, die Anzeichen von Burnout erkennen können, bevor sie kritisch werden, virtuellen Peer-Support-Communitys, die sichere Räume zum Austausch und zur Unterstützung bieten, und ausgefeilte Ressourcenmanagement-Tools, die dabei helfen, die Arbeitsbelastung in Echtzeit auszugleichen. Selbstverständlich gilt es bei dem Einsatz derartiger Systeme zum Monitoring der Arbeitsbelastung der Mitarbeitenden gleichzeitig die Würde und Privatsphäre zu schützen.

Vielleicht am wichtigsten ist der Schritt der Strukturanalyse und -optimierung. Es ist wichtig, dass Organisationen, die wahren Kosten von Präsentismus und ineffektiven Praktiken verstehen lernen – Kosten, die oft in die Millionen gehen, aber in herkömmlichen Buchhaltungssystemen verborgen bleiben. Durch detaillierte Analysen und datengesteuerte Erkenntnisse können die spezifischen Faktoren, die Präsentismus in den jeweiligen Pflegeteams fördern, identifiziert werden. Dabei geht es nicht nur darum, Probleme zu erkennen, sondern um das Schaffen von praktischen und nachhaltigen Lösungen, die sich unmittelbar in einer besseren pflegerischen Versorgung niederschlagen.

Was ist Präsentismus?

Präsentismus bezeichnet das Phänomen, dass Mitarbeiter trotz körperlicher oder geistiger Einschränkungen, die ihre Abwesenheit rechtfertigen, zur Arbeit erscheinen.

(Gerlach et al. 2024)

Auf dem Weg zu gesunden Teams

Um hochfunktionale Pflegeteams zu bilden, sollte man sich nicht nur mit oberflächlichen Problemen befassen. Denn letztlich ist eine grundlegende Neuorganisation unserer Denkweise über das Personalmanagement im Gesundheitswesen erforderlich. Dies bedeutet, neue Kennzahlen zu entwickeln, die das Wohlbefinden der Mitarbeitenden ebenso hoch einschätzen wie die betriebliche Effizienz, das Implementieren von neuen Technologien, die die Mitarbeitenden unterstützen, anstatt sie zu belasten, und das Entwickeln von Führungspraktiken, die die Gesundheit der Teams wirklich fördern.

Den Überblick behalten

Obwohl die Arbeit an der Entwicklung von Führungsqualitäten und dem kulturellen Wandel in den Einrichtungen von entscheidender Bedeutung ist, muss stets der Gesamtkontext in der Organisation realistisch betrachtet werden. Eine einfache Erhöhung der Mitarbeiterzahl ist zwar wichtig, aber keine vollständige Lösung. Sie muss Teil eines umfassenden Ansatzes sein, der bessere Führung, verbesserte Strukturen und technologische Innovation umfasst.

Deshalb ist es notwendig:

  • den Personalbestand auf ein nachhaltiges Verhältnis zu erhöhen und gleichzeitig die Organisationsprozesse anzupassen, um die Unterstützung und den Einsatz der Mitarbeitenden zu verbessern
  • in technologische Lösungen zu investieren, die die Arbeitsbelastung tatsächlich reduzieren und die Versorgung verbessern können
  • die Bezahlung und die Bedingungen zu verbessern, um der anspruchsvollen Arbeit im Gesundheitswesen Rechnung zu tragen
  • innovative Ansätze für das Personalmanagement, die Gesundheit und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden zu unterstützen
     

A Call to Action

Die finanziellen Auswirkungen sind schnell klar – Pflegeeinrichtungen verlieren finanzielle Ressourcen durch vermeidbaren Präsentismus und die damit verbundenen Kosten. Aber noch wichtiger ist, dass die zunehmende Häufigkeit kritischer Ereignisse im Zusammenhang mit Präsentismus ein Weckruf für Führungskräfte und politische Entscheidungstragende im Gesundheitswesen sein sollte. Es geht nicht nur darum, dass engagierte Pflegefachpersonen keine Krankheitstage nehmen – es ist ein Warnsignal für strukturelle Probleme, die dringend angegangen werden müssen.

Organisationen benötigen bei diesen Transformationsprozessen Unterstützung. Es kommt darauf an, dass Regierungen und Kostenträger, die dazu notwendigen Ressourcen einsetzen und gleichzeitig sicherstellen, dass diese effektiv genutzt werden können. Das Ziel ist nicht nur, die Bilanzen zu verschönern, sondern eine wirklich belastbare, effektive pflegerische Versorgung zu garantieren, die sowohl dem Personal als auch der Bevölkerung besser dient.
 

Quellenangaben

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Die Autorin

Die Neuseeländerin Caroline Bartle verfügt über 30 Jahre Erfahrung im Gesundheits- und Sozialwesen, davon 20 Jahre nach ihrem MBA. Sie hat umfangreiche Erfahrung darin, Organisationen bei der Bewertung und Verbesserung der Umfeldgestaltung für Menschen mit Demenz zu unterstützen, wobei sie sich auf die Schaffung positiver Veränderungen innerhalb der Pflegeeinrichtungen konzentriert.

Dies ist Teil 2 der Artikelserie zu Präsentismus. Teil 1 kann hier nachgelesen werden: https://drk-wohlfahrt.de/blog/eintrag/praesentismus-in-der-pflege-die-versteckten-kosten-des-weitermachens-teil-1.html 

Das englische Original des Artikels kann unter folgendem Link abgerufen werden: carolinebartle.com/blog/f/the-hidden-cost-of-soldiering-on-the-presenteeism-crisis.