"Wie wollen wir in Zukunft leben?"

Partizipativ-normative Verfahren in der Zukunftsforschung

Der DRK-Wohlfahrtskongress 2022 steht unter dem Themenschwerpunkt: „Zukunft ist jetzt.“. In einem Verband wie dem DRK ist die Zukunft der Wohlfahrt auch ein Aushandlungsprozess, der bottom up geführt werden muss. In diesem Blogbeitrag werfen wir daher einen Blick auf zwei partizipativ-normative Ansätze der Zukunftsforschung.

Die Zukunftsforschung hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich mit möglichen, wünschbaren und wahrscheinlichen Zukunftsentwicklungen auseinanderzusetzen. Während explorative Techniken versuchen, auf Basis von Forschungsergebnissen und gesichertem Wissen Prognosen zu erstellen - „Wie werden wir in Zukunft leben?“ - gehen normative Techniken von den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen aus - „Wie wollen wir in Zukunft leben?“. Letztere sind, kombiniert mit partizipativen Herangehensweisen, Schwerpunkt in diesem Blogartikel. Ganz nach dem Arbeitsgrundsatz der DRK Wohlfahrt „Wir hören zu, wir erzählen, wir bewegen“.

Ethnographic Experiential Futures:

Ethnographic Experiential Futures vereint zwei Ansätze. Zum einen Experiential Futures, eine Familie von Methoden aus der kritischen Zukunftsforschung, um Zukunft sichtbar, greifbar, interaktiv und auf andere Weise diskutierbar und erforschbar zu machen. Zum anderen Ethnographic Futures Research. Hierbei handelt es sich um einen Prozess zur systematischen Abbildung von Zukunftsbildern, die von verschiedenen Individuen oder Gemeinschaften vertreten werden. Dabei wird als Ziel das “Entlocken” von Bildern, Präferenzen, Erkenntnissen und Werten einer vorhandenen gesellschaftlichen Gruppe, in Bezug auf mögliche oder wahrscheinliche zukünftige (kulturelle) Entwicklungen für diese Gruppe verfolgt. 

Der typische Prozess kann variieren, besteht aber meistens aus fünf Schritten.

  • Im ersten Schritt werden die Vorstellungen der Menschen von der Zukunft z. B. mittels Interviews untersucht und festgehalten. Dabei werden je nach Projekt eine Kombination aus wahrscheinlichen, gewünschten, unerwünschten Zukünften betrachtet.
  • Im nächsten, aber optionalen Schritt können weitere Szenarien hinzugefügt werden, um die erfassten alternativen Zukünfte zu diversifizieren, herauszufordern oder zu erweitern.
  • Im dritten Schritt werden die Zukunftsvorstellungen in greifbare, immersive, visuelle oder interaktive Erfahrungen übersetzt. Das können Zukunfts-Artefakte, Collagen, Bilder, Zeichnungen oder ein (Import-)Theaterstück sein.
  • Im vierten Schritt findet die Inszenierung der “experiential scenarios” statt, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen (z.B. Ausstellung).
  • Im abschließenden Schritt kann man die Reaktionen/ Antworten z.B. mittels Beobachtungen untersuchen und festhalten. 

Mehr Infos: Candy, Stuart & Kornet, Kelly. (2019). Turning Foresight Inside Out: An Introduction to Ethnographic Experiential Futures. Journal of Futures Studies. 23. 3-22. >Link

Futures Literacy:

Futures Literacy beschreibt die Fähigkeit, die Zukunft in der Gegenwart zu „lesen“ und die Zukunft zu ,,instrumentalisieren“. Nach Ansicht der UNESCO ist Futures Literacy eine der essenziellen Kompetenzen des 21. Jahrhunderts. Ziel ist es, Menschen in die Lage zu versetzen, die Zukunft besser für sich zu nutzen und sie zu befähigen, mit der Unsicherheit der Zukunft umzugehen. Maßgeblich involviert in die Entwicklung von Futures Literacy und eng verbunden mit der Methode ist Riel Miller, der Futures Literacy in seiner Position als Leiter des Foresight Bereichs der UNESCO etablierte. 

Vermittelt wird die Methode in Futures Literacy Knowledge Labs. In praxisorientierten Workshops werden die Teilnehmenden mit verschiedenen Methoden an die Kompetenz der Futures Literacy herangeführt und üben das Zukunftsdenken. Dies beinhaltet eigene Handlungsnarrative und Denkmuster sichtbar zu machen, aber auch eine größere Offenheit gegenüber Neuem und Nichtwissen zu schaffen, um das Bedrohungspotenzial der Zukunft zu reduzieren. Die Idee ist, dass viele Menschen zusammenkommen und sich über ihre eigenen Zukunftsvorstellungen austauschen, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu entdecken. 

Der Prozess zielt darauf ab, Annahmen, auf denen unsere Zukünfte basieren, zu identifizieren und explizit zu machen: Woher kommen diese Annahmen, wie werden wir uns darüber bewusst und wie können wir diese dann verändern oder neu ausrichten? Miller beschreibt in seinem Konzept antizipatorische Systeme. Aussagen über die Zukunft basieren auf bestimmten Annahmen, die wir gegenwärtig über die Zukunft haben und die unser Handeln beeinflussen. Wir nutzen also Antizipationen über die Zukunft, um in der Gegenwart zu handeln. 

Wie wir über die Zukunft denken, kann das, was wir heute sehen, einschränken. Indem wir unsere Vorstellungskraft aktivieren und uns verschiedene Zukünfte vorstellen, schaffen wir mehr Offenheit für unerwartete Phänomene sowie Neues und können Unsicherheit besser akzeptieren. Es geht also darum, die Zukunft anders zu nutzen, und zwar dazu, unsere Denkräume zu erweitern und um Systemgrenzen und -beziehungen zu erkennen, außerdem um  Annahmen zu überdenken, die wir zum Verständnis der Gegenwart verwenden. Inzwischen gibt es überall auf der Welt über 80 solcher Initiativen, die Future Literacy Knowledge Labs an verschiedensten Orten lokal durchführen. 

Beide Ansätze zeigen, wie man mittels Kreativität außerhalb von Pfadabhängigkeiten denken kann. Diese Auseinandersetzung mit unser aller Zukünfte betrifft auch immer die Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen und das Hinterfragen der eigenen Weltanschauung, den eigenen Werten und den eigenen Privilegien, sowie die Bereitschaft letztere auch abzugeben.

Weitere Links:

Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewetung (IZT): www.izt.de 

De-Colonizing Futures https://www.decolonizingfutures.org/ 

Vorausschau.de (Bundesministerium für Bildung und Forschung): https://www.vorausschau.de/