Um die Themen Flucht und Migration wird seit jeher gestritten, doch in den letzten Wochen und Monaten beobachten wir eine Enthemmung im politischen und gesellschaftlichen Diskurs, die schockiert und Angst macht. Die Verbreitung von Unwahrheiten und die Verwendung von rassistischer und diskriminierender Sprache gehören dabei ebenso zum Repertoire wie die Infragestellung grundlegender Rechtsgrundsätze des Asyl- und Flüchtlingsrechts. Die Perspektive geflüchteter Menschen, die in Deutschland leben, wird dabei kaum mitgedacht und abgebildet.
Dabei geht es um weit mehr als Worte. Gerade hat eine Studie festgestellt, dass aktuell 16,2 % der befragten Personen in Deutschland „fremdenfeindlich“ eingestellt sind. In den Vorjahren waren es „nur“ 4,5 bzw. 8,7 %. (Den Urheber:innen der Studie ist bewusst, dass eine solche Einstellung korrekterweise als rassistisch zu bezeichnen ist, aus Gründen der Vergleichbarkeit mit den Vorjahren wurde auf einen Wechsel der Begrifflichkeiten in der Studie aber verzichtet.)
Auch die Zahl der Angriffe auf Unterkünfte, in denen Geflüchtete leben, steigt: wie im Juni berichtet wurde, gab es im ersten Quartal 2023 schon 45 solcher Angriffe, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahresquartal (Gesamtsumme 20229: 123 Taten. Das zieht Folgen nach sich: aus Sorge um die Bewohner:innen fordert die sächsische Integrationsministerin deswegen bereits die Einrichtung einer Bannmeile um Geflüchtetenunterkünfte.
Von dem im Koalitionsvertrag angekündigten Paradigmenwechsel in der deutschen Migrations- und Integrationspolitik entsprechend einem modernen Einwanderungsland ist derweil wenig zu spüren. Zwar ist es der Bundesregierung gelungen, einige Gesetzesänderungen auf den Weg zu bringen, wie etwa das Chancenaufenthaltsrecht und die Reform des Staatsangehörigkeitsrecht, doch der Teufel liegt wie immer im Detail. Tücken wie die Stichtagsregelung und die fehlenden Ausnahmen bei der Lebensunterhaltssicherung werden es vielen Betroffenen unmöglich machen, die versprochenen Rechte in Anspruch zu nehmen. Und erst diese Woche wurde berichtet, dass die Innenministerin explizit nicht die angekündigte Reform beim Familiennachzug angehen möchte. Zu rechnen ist hingegen mit verschärften Regelungen zur Abschiebung, entsprechend dem Diskussionspapier des BMI vom August.
Die Veränderungen, die sich gerade auf europäischer Ebene vollziehen, sind noch grundlegender. Der „New Pact on Migration and Asylum“, der im September 2020 vorgestellt wurde (siehe Neuer EU-Pakt für Migration und Asyl – (k)ein Neustart für die europäische Migrationspolitik?, 09.10.2020) und der das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) reformieren soll, soll bis zu den Europa-Wahlen im Juni 2024 beschlossen sein. Das neue Regelwerk wird dazu führen, dass weniger Menschen Zugang zu einem fairen Asylverfahren in der EU haben werden, dass es mehr Fälle von Inhaftierung an den Grenzen geben wird und dass vor allem besonders schutzwürdige Personen nicht die Versorgung erhalten werden, die sie benötigen und die ihnen rechtlich zusteht (siehe Die Reform des Europäischen Asylsystems kann Geflüchtete in vulnerabler Lage am schwersten treffen, 22.06.2023). Gestern hat die Bundesregierung ihre Zustimmung zur umstrittenen "Krisenverordnung" erteilt. Durch diesen Baustein des Paktes können die bereits abgesenkten Standards in Fällen von „Krisen“ und „Instrumentalisierung“ weiter herabgesetzt und damit de facto ausgehebelt werden. Damit ist weiteren Rechtsverletzungen der Weg geebnet.
Diese Entwicklungen haben auch Auswirkungen auf die Arbeit des DRK und die Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften in Europa. Leitend bei unserer Arbeit sind dabei stets die sieben Grundsätze der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit und Universalität. Wir handeln nach diesen Grundsätzen und treten für sie ein. Für unsere Arbeit im Bereich Flucht und Migration in Deutschland bedeutet das:
Die Menschlichkeit ist dabei oberster Grundsatz und kein „nice to have“. Auch und gerade wenn Rechte in Frage gestellt werden, treten wir für unsere Grundsätze und die Rechte der Betroffenen ein. Dabei ist klar: Menschlichkeit gilt unbedingt und kennt keine Grenzen!