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In dubio pro reo – Im Zweifel für die Angeklagte. Die Abwicklung der Pflegekammer in Niedersachsen und die Auswirkungen für die professionelle Pflege.

Die Unschuldsvermutung ist eine tragende Säule unseres Rechtssystems und eine bedeutende Errungenschaft der Aufklärung. Demnach werden Angeklagte solange als unschuldig angesehen, bis ihre Schuld bewiesen wurde. Dieses Prinzip findet in ähnlicher Form in der (Pflege-)Wissenschaft Anwendung; eine pflegerische Behandlung kann nur dann als wirksam angenommen werden, wenn genügend Hinweise vorliegen, dass das Gegenteil sehr unwahrscheinlich ist.

Karl Popper und das Induktionsproblem

Dies ist in der Regel der Fall, wenn die Irrtumswahrscheinlichkeit unter 5% liegt (die berühmte Signifikanz). In Wahrheit wird also nicht die Wirksamkeit „bewiesen“, sondern die Unwirksamkeit „widerlegt“ (Verifikation durch Falsifikation). Ist die Evidenz zu gering, erfolgt also eine Art Freispruch aus Mangel an Beweisen. Karl Popper nannte das Induktionsproblem: Es würden unendlich viele Beobachtungen benötigt werden, um eine Behauptung zweifelsfrei belegen zu können. Für den Gegenbeweis sei allerdings nur eine einzige Beobachtung erforderlich.

Dies betrifft insbesondere verallgemeinernde Aussagen wie: „Pflegekammern bringen nichts!“, was schwer zu beweisen ist, denn würde nur in einem Fall das Gegenteil zutreffen, wäre die Behauptung bereits widerlegt (was aber gleichzeitig nicht bedeutet, dass dann ein allgemeiner Nutzen nachgewiesen wurde, wie der Umkehrschluss nahelegt). Die Falsifikation wäre Popper zufolge daher eine deutlich zuverlässigere Beweisführung, da sie nur dann aufgegeben werden kann, sofern die Zweifel an der Annahme absolut gering sind.

Dies meint auch der berühmte Ausspruch von Aristoteles: „Wer recht erkennen will, muss zuvor in richtiger Weise gezweifelt haben“.

Schuldig trotz Mangel an Beweisen?

Der Pflegekammer in Niedersachsen wurde diese Gnade allerdings nicht zuteil. Sie soll trotz umstrittener Befragungsergebnisse aufgelöst werden, obwohl sie ihre Wirkung, aufgrund des geringen Etablierungsgrades, überhaupt noch nicht entfalten konnte. Die berufliche Pflege in Niedersachsen wird dadurch um Lichtjahre zurückgeworfen, denn die Angelegenheiten der Berufsgruppe sollen zukünftig alleinig durch das Land, sowie die Kosten- und Leistungsträger geregelt werden. Doch diese Akteure haben in der Regel andere Prioritäten, wozu das Wohlergehen des Berufsstands nur dann gehört, wenn es um die Sicherstellung der Versorgung geht.

Die Stärkung der beruflichen Pflege in ihrer Fachlichkeit spielte in diesem Kontext jedenfalls bislang eine eher untergeordnete Rolle (diplomatisch ausgedrückt). Dies ist systemimmanent, denn aktuell bestehen, wenn überhaupt, lediglich inkrementelle Anreize, um die Fachlichkeit in der Pflege zu stärken, da hierdurch augenscheinlich weder Kosten gespart noch Erlöse gesteigert, oder Fachkräfte gewonnen werden. Das Argument, dass dies als Folge mit der Aufwertung der Pflegeberufe einhergehen würde, verhallt zumeist ungehört.

Neben dem Totschlagargument der Pflichtmitgliedschaft wird insbesondere von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften immer wieder die angebliche Wirkungslosigkeit der Pflegekammern ins Feld geführt. Der einschlägigen Rhetorik zufolge würden Pflegekammern die wirklichen Probleme in der Pflege nicht lösen, da sie weder bessere Gehälter und Personalschlüssel noch eine auskömmlichere Finanzierung der Einrichtungen, herbeiführen könnten.

Doch wer so argumentiert, hat das Konstrukt Pflegekammer nicht verstanden. Denn wie die anderen, bisher etablierten berufsständischen Körperschaften, haben auch die Pflegekammern die Selbstverwaltung der Profession zur Aufgabe. Der Wirkungsmechanismus ist daher ein völlig anderer.

Während Gewerkschaften mit den Arbeitgebervertretern Tarifverträge verhandeln oder durch Arbeitskämpfe bessere Arbeitsbedingungen erstreiten wollen, führen die Trägerverbände der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, so auch das DRK, Vergütungsverhandlungen mit den Kostenträgern durch. Fachverbände, die sich auf Bundesebene zu dem Deutschen Pflegerat zusammengeschlossen haben, befördern hingegen die Fachlichkeit, beispielsweise durch die Entwicklung von innovativen Pflegekonzepten.

Pflegekammern hingegen gestalten als Körperschaften des öffentlichen Rechts die Rahmenbedingungen für die professionelle Pflege der Bevölkerung. Gute Rahmenbedingungen in der Pflege kommen demnach dann zustande, wenn sich all diese Akteure, mit ihren spezifischen Aufgabenfeldern, sinnvoll ergänzen und nicht gegenseitig ausschließen (Hener 2019). Häufig wird in diesem Zusammenhang auch von dem Dreiklang der Berufspolitik gesprochen.

Die Verhandlungssache „Pflegekammer Niedersachsen“

Wenn auf die Pflegekammerbewegung als Ganzes zurückgeblickt wird, lässt sich eines festhalten: Keine Debatte in der Berufspolitik der Pflege wird so emotional geführt, wie diese Frage. Das hat sich bei der Gründung der ersten Landespflegekammer in Rheinland-Pfalz gezeigt, konnte bei der Etablierung in Schleswig-Holstein beobachtet werden und wurde erst recht am Beispiel von Niedersachsen deutlich.

Die dortige Pflegekammer sorgte Ende 2018 durch das Versenden der Beitragsbescheide für eine enorme Empörung unter den beruflich Pflegenden. Knackpunkt war vor allem die grundsätzliche Eingruppierung in den Höchstsatz der Beitragsordnung, wenn das jeweilige Kammermitglied nicht innerhalb von vier Wochen über die persönlichen Einkommensverhältnisse aufklären würde (aerzteblatt.de 2019).

Vor dem Hintergrund der hohen Belastungen in der Pflege, sowie einer daraus hervorgehenden Gratifikationskrise der Beschäftigten muss die Intonation des damaligen Beitragserhebungsverfahren zurecht in Frage gestellt werden. Insbesondere der ungünstig gewählte Zeitpunkt – kurz vor Weihnachten – wird in Kombination mit dem patriarchalischen Wortlaut des Beitragsbescheides dazu geführt haben, dass die Emotionen insgesamt hochgekocht sind. 

Einige Pflegende machten ihrem Ärger daraufhin in den sozialen Medien Luft, mit durchaus durchwachsener Reflexivität. Darüber hinaus wurde eine Online-Petition zur Abschaffung der Pflegekammer Niedersachsen gestartet, die zwischenzeitlich bis zu 45.000 Unterzeichnende zählte. Schwerpunkt der Kritik war die Pflichtmitgliedschaft und die damit verbundenen „Zwangsbeiträge“ zur Finanzierung der Pflegekammer; eine Argumentationslinie, die sich wie ein roter Faden durch die Diskussionen um eine Verkammerung der Pflege zieht.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich in der von infratest dimap durchgeführten Studie aus dem Jahr 2013, noch eine Mehrheit von 67% der 1039 befragten Pflegenden für die Errichtung einer Pflegekammer in Niedersachsen ausgesprochen hat. Wobei die Zustimmung gegenüber einer Pflichtmitgliedschaft mit Beitragszahlungen in der, nach eigenen Angaben, repräsentativen Studie, paradoxerweise mit 42% eher gering ausfiel (NDS MSGG 2013).

Einspruch, Euer Ehren!

Der Wert der Freiwilligkeit hat in der Rotkreuzbewegung eine hohe Bedeutung. Gleichzeitig hat eine Kammer, die nicht alle Angehörigen ihres Berufsstandes repräsentiert, kein politisches Mandat. Was aktuell am Beispiel des sogenannten „Pflegerings“ in Bayern deutlich wird, der aus dem Staatshaushalt der Landesregierung finanziert wird und damit dem Haushaltsvorbehalt unterliege, wie Dr. h.c. Franz Wagner, Präsident des Deutschen Pflegerates, betont  (aerzteblatt.de 2017).

Insofern führt bereits die Frage nach der Zustimmung zu einer Pflichtmitgliedschaft in die Irre, da hier eine Entscheidungsmöglichkeit suggeriert wird, die im Grunde nicht existiert. Führen Sie einmal eine Umfrage durch, in der zwischen Steuerpflicht und Steuerbefreiung gewählt werden kann. Wie werden wohl die Ergebnisse ausfallen?

Stattdessen hätte offen kommuniziert werden sollen, dass die Mitgliedschaft in der Pflegekammer natürlich verpflichtend ist, und auch Beiträge erhoben werden. Dies gehört nun einmal zu dem Wesen einer Kammer. Die Pflege liegt aber nicht durch Pflichtmitgliedschaften und Beitragszahlungen am Boden, sondern weil unsere Profession keinen Einfluss in den Organen der Selbstverwaltung hat, unsere Berufsgruppe daher de facto fremdbestimmt ist, und wir unser Schicksal folglich nicht in die eigenen Hände nehmen können.

Sind die Pflegekammern unfehlbar? Natürlich nicht! Wie andere Organisationen haben auch sie Stärken und Schwächen. Aber: Pflegekammern sind demokratische Institutionen. Über die Kammerversammlung können sich die Mitglieder aktiv daran beteiligen – sofern sie sich die Mühe machen wollen. Denn ein Ehrenamt zu übernehmen, sorgt erstmal nicht für Entlastung, sondern bedeutet richtig viel Arbeit.

Wir – und da schließe ich mich als beruflich Pflegender a.D. selbst mit ein – sollten uns zukünftig zuallererst fragen, was uns unsere Profession wert ist und welches Selbstverständnis wir von unserem Beruf haben. Geht es „nur“ um mehr Gehalt, mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen? Das alles sind wichtige und richtige Forderungen. Aber geht es letztlich nicht doch um mehr – nämlich um unsere berufliche Selbstbestimmung?

Eines steht jedoch fest: Ohne Pflegekammern werden wir uns niemals von den approbierten Gesundheitsberufen emanzipieren, eine echte Profession sein, Heilkunde ausüben, oder direkt mit den Kostenträgern abrechnen. Wir werden auch keine Karrieremöglichkeiten haben, oder gemäß unserer Qualifikation bezahlt werden. Denn dafür müssen erst die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden: vor allem in Form eines durchlässigen Aus- Fort- und Weiterbildungssystems in der Pflege, sowie der Ausdifferenzierung der pflegerischen Vorbehaltsaufgaben durch eine Berufsordnung. Insofern sind die Pflegekammern nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung – zumindest, wenn man sie lässt.

Das hohe Gericht zieht sich zur Beratung zurück

Mit der Ende 2019 erfolgten Beitragsbefreiung durch das Land Niedersachsen, welches die Beitragszahlungen der Kammermitglieder fortan übernahm, wurde das weitere Schicksal der Pflegekammer NDS förmlich besiegelt. Denn eine berufsständische Kammer, die nicht von den Berufsangehörigen selbst getragen wird, ist ihren Namen nicht wert. Infolgedessen verlor die Kammer nicht nur weiter an Akzeptanz, sondern auch ihre Legitimität, denn fortan wurde die Pflegekammer NDS wie eine landeseigene Körperschaft betrachtet, was an deren Unabhängigkeit und Integrität zweifeln ließ. Zudem ist es nicht die Aufgabe der Steuerzahler:innen die berufsständische Selbstorganisation zu finanzieren, auch wenn dies von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gefordert wird (Roßbruch 2020).

Im Anschluss an einen Wechsel der Präsidentin, wodurch der angeschlagenen Kammer ein Neustart ermöglicht werden sollte, kündigte das niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, aufgrund des fortbestehenden Unmuts (und wohl auch des Drucks diverser Akteure), zu Beginn 2020 eine Umfrage zur Zukunft der Pflegekammer an. Diese Befragung zeichnete sich allerdings mehr durch „Pleiten, Pech und Pannen“, als durch aussagekräftige Ergebnisse aus, denn insgesamt wurden drei Anläufe benötigt, um zu den jetzigen Ergebnissen zu kommen.

Der erste Versuch (Juni 2020) wurde aufgrund von methodischen Ungenauigkeiten, wie Suggestivfragen (Pflegekammer Niedersachsen 2020a) und einem mutmaßlichen Datenleck abgebrochen (Pflegekammer Niedersachsen 2020b). Während des zweiten Versuchs (Juli 2020) reichte ein Kammermitglied beim Verwaltungsgericht Hannover eine Klage, bezüglich Datenschutz- und verfassungsrechtlicher Bedenken ein. Zwar wurde die Klage als unbegründet abgewiesen, allerdings musste die Befragung nach dem Eingang der Klageschrift unterbrochen werden (Pflegekammer Niedersachsen 2020c). Der dritte Anlauf brachte schlussendlich die nun vorliegenden Ergebnisse hervor.

Demnach haben sich 70,6% der Teilnehmenden gegen den Fortbestand der Pflegekammer NDS ausgesprochen. Allerdings war der Rücklauf der Befragung mit 19,4% relativ gering (NDS MSGG 2020).

Vor dem Hintergrund der Gesamtzahl der Kammermitglieder (78.000) stimmten damit lediglich 13,7% der Kammermitglieder gegen eine Weiterexistenz. Aus diesem Grund argumentieren die Kammerbefürworter:innen, dass ein Volksentscheid des Landes Niedersachsen ein Quorum an Zustimmung von 25% aller Wahlberichtigten benötigen würde. Und da die Pflegekammer eine Körperschaft des Öffentlichen Rechts ist, die einem gesetzlichen Auftrag folgt, käme eine Befragung zur Zukunft der Kammer einem Volksentscheid gleich (aerzteblatt.de 2020).

Im Namen der Landesregierung ergeht folgendes Urteil

Die niedersächsische Sozialministerin Carola Reinmann (SPD) kündigte allerdings am 07.09.2020 an, dass die Landespflegekammer NDS aufgelöst werde und die entsprechenden Gesetzesvorhaben bereits in der Mache seien (NDS MSGG 2020).

In der Gesamtschau werfen die Entwicklungen und Affären rund um die Pflegekammer Niedersachsen ein schlechtes Licht auf die Pflegekammerbewegung in Deutschland; was ein gefundenes Fressen für die Kammergegner:innen ist und Wasser auf deren Mühlen bedeutet.

Darüber hinaus zeigt sich aber auch, dass sich die berufliche Pflege in Deutschland nur in Teilen als eigenständige Profession begreift. Und sich zudem leicht von berufsfremden Akteuren beeinflussen lässt. Sodass sich dieses Thema stärker in der Aus- Fort- und Weiterbildung der Pflege wiederfinden sollte.

Schlussendlich bleibt es zu hoffen, dass bei der Neugründung von Pflegekammern (z.B. aktuell in NRW) aus den Fehlern in Niedersachsen gelernt wird. Dann hätte all das Zinnober am Ende doch noch etwas Gutes gehabt.

Quellen

aerzteblatt.de (Hrsg.). (2017). Vereinigung der Pflegenden in Bayern gegründet. News vom 24.10.2017. Online im Internet. [29.09.2020]

aerzteblatt.de (Hrsg.). (2019). Nach Ärger um Bescheide: Pflegekammer will Beitragsordnung ändern. News vom 09.01.2019. Online im Internet. [29.09.2020]

aerzteblatt.de (Hrsg.). (2020). Umstrittene Pflegekammer in Niedersachsen wird aufgelöst. News vom 07.09.2020. Online im Internet. [29.09.2020]

Hener, C. (2019). Gemeinsam sind wir stark – Pflegekammern wirken. In: Rotkreuzschwester. Ausgabe 02/2019. Online im Internet. [29.09.2020]

Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung (Hrsg.). (2013). Umfrage zur Pflegekammer ergibt differenziertes Bild. Pressemitteilung vom 15.03.2020. Online im Internet. [29.09.2020]

Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung (Hrsg.). (2020). Pflegekammer Niedersachsen. Pflegekammer wird aufgelöst. Pressemitteilung vom 07.09.2020. Online im Internet. [29.09.2020]

Pflegekammer Niedersachsen (Hrsg.). (2020a). Kammerversammlung fordert Neustart der Umfrage mit klaren Fragen. Pressemitteilung vom 16.06.2020. Online im Internet. [29.09.2020]

Pflegekammer Niedersachsen (Hrsg.). (2020b). Stopp der Umfrage zur Pflegekammer. Pressemitteilung vom 09.06.2020. Online im Internet. [29.09.2020]

Pflegekammer Niedersachsen (Hrsg.). (2020c). Hin und her zehrt an den Nerven. Pressemitteilung vom 23.07.2020. Online im Internet. [29.09.2020]

Roßbruch, R. (2020): Zur Kopfgeburt einer beitragsfreien Pflegekammer in Niedersachsen. Editorial. In: PflegeRecht. Ausgabe 01/2020 Online im Internet. [29.09.2020]