Wenn Sie sich die Entwicklungen in Europa und der EU seit Beginn der Corona-Pandemie ansehen, was bereitet Ihnen aus sozialpolitischer Sicht am meisten Sorge?
Bischoff: Die Europäische Union war nicht ausreichend vorbereitet, um auf eine solche Ausnahmesituation wie die Corona-Pandemie schnell und mit vereinten Kräften zu reagieren. Unmittelbare Reaktionen wurden von den Nationalstaaten im Alleingang getroffen und das Potenzial der Zusammenarbeit zu lange nicht genutzt. In den Grenzregionen standen beispielsweise Pendler*innen plötzlich beim täglichen Weg zur Arbeit vor geschlossenen Grenzübergängen und zahlreiche Saisonarbeitskräfte mussten lange um ihr ohnehin niedriges Gehalt bangen.
Dabei ist die Zusammenarbeit der EU-Mitgliedsstaaten - gerade in sozialen Fragen - aktuell besonders wichtig. Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie konfrontieren alle Länder innerhalb der EU mit einer Welle von Restrukturierungen und Insolvenzen. Viele Arbeitnehmer*innen machen sich Sorgen um die Sicherheit ihrer Jobs. Statt bei wichtigen Unternehmensentscheidungen einbezogen zu werden, zeigt sich gerade europaweit, wie Mitbestimmungsrechte umgangen werden.
Außerdem zeigt uns die Pandemie wie unter dem Brennglas, wo die Schattenseiten des gemeinsamen Arbeitsmarktes liegen. Innerhalb kürzester Zeit haben sich Hunderte Beschäftigte aus Mittel- und Osteuropa in der fleischverarbeitenden Industrie mit dem Coronavirus infiziert, weil sie unter gesundheitsgefährdenden und unwürdigen Bedingungen arbeiten und wohnen müssen. Das gleiche gilt für Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft, entsandte Beschäftigte in der Baubranche und viele mehr, die wie Arbeitnehmer*innen zweiter Klasse behandelt werden. Das Europäische Parlament hat deshalb im Juli 2020 in einer fraktionsübergreifenden Resolution gefordert, die Leitlinien zur Freizügigkeit von Arbeitnehmer*innen in der EU an die aktuelle Situation anzupassen und ordentlich zu kontrollieren. Nur so können wir sicherstellen, dass der Gesundheits- und Arbeitsschutz für alle Arbeitnehmer*innen gilt und die Ausbeutung beendet wird.
In ihren sozioökonomischen Folgen droht die Corona-Pandemie Ungleichheiten innerhalb der Europäischen Union weiter zu verschärfen und noch mehr Menschen in Armut zu drängen. Was ist nach Ihrer Meinung notwendig um dem entgegen zu wirken? Wie kann langfristig eine stärkere soziale Absicherung der europäischen Bürgerinnen und Bürger erreicht werden?
Bischoff: Bereits vor der Corona-Pandemie waren fast 119 Millionen Menschen in der Europäischen Union (23,7 Prozent der Bevölkerung) armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie können diese besorgniserregende Tendenz weiter verschlimmern. Damit der Wiederaufbauplan der EU nachhaltig vor weiterer Armut in den Mitgliedstaaten schützt, muss gleichzeitig die soziale Widerstandsfähigkeit der EU gestärkt werden. Dafür brauchen wir gute Arbeitsbedingungen, gerechte Löhne, eine soziale Absicherung und starke Mitspracherechte für Arbeitnehmer*innen in allen Mitgliedsstaaten.
Ein besonders wichtiges Werkzeug im Kampf gegen Armut ist die Mindestsicherung. In vielen Mitgliedstaaten bestehen aktuell Defizite hinsichtlich der Angemessenheit und des Abdeckungsgrades der nationalen Mindestsicherung. Oftmals ist die Höhe dieser Absicherung nicht ausreichend oder bestimmte Bevölkerungsgruppen wie beispielsweise Jugendliche sind ausgeschlossen. Bisher sieht die Kommission leider keine Rechtsgrundlage, auf deren Basis sie eine EU-Rahmenrichtlinie für gut zugängliche Mindestsicherungssysteme in ganz Europa vorschlagen könnte. Allerdings hat der Rat unter deutscher Ratspräsidentschaft im Oktober 2020 Schlussfolgerungen zur Stärkung der Mindestsicherung in der EU angenommen. Darin wird die Kommission aufgefordert, eine Aktualisierung des Unionsrahmens einzuleiten, um die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung einer nationalen Mindestsicherung wirksam zu unterstützen.
Bis Jahresende hat die Bundesregierung die Präsidentschaft im Rat der EU inne. Wie bewerten Sie den deutschen Vorsitz aus sozialpolitischer Perspektive?
Bischoff: Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat sich ein großes Ziel gesetzt: Sie will dafür sorgen, dass Europa stärker, gerechter und nachhaltiger wird.
In der Tat sind während der deutschen Ratspräsidentschaft einige wichtige sozialpolitische Vorhaben angestoßen oder weiterentwickelt worden. So hat beispielsweise die EU-Kommission am 28. Oktober 2020, einen Rahmen für die Einführung eines europäischen Mindestlohnsystems vorgestellt und damit auf das Vorhaben der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reagiert, ein Rechtsinstrument für gerechtere Mindestlöhne einzuführen. Ziel ist es, nicht nur faire Mindestlöhne zu gewährleisten, sondern auch die Tarifverhandlungen in Europa zu stärken. Die anerkannte Zielmarke in der internationalen Debatte für armutsfeste Mindestlöhne ist die Untergrenze von 60 Prozent des mittleren Einkommens. Davon würden in Europa bis zu 20 Millionen Menschen profitieren, die zurzeit für keine armutsfesten Löhne arbeiten. Leider ist diese Zielvorgabe nicht verbindlich im Richtlinienvorschlag festgelegt. Das Europäische Parlament muss hier nachsteuern und den Kommissions-Vorschlag jetzt nachhaltig verbessern. Dazu finden bereits intensive Gespräche im Parlament statt.
Es bleiben allerdings große Baustellen auf dem Weg zu einem sozialeren und gerechteren Europa. Das Europäische Parlament verhandelt schon lange mit dem Rat über die Reform der sogenannten Verordnung zur Koordinierung der Systeme zur sozialen Sicherheit. Ziel der Überarbeitung ist die Verbesserung der Situation mobiler Arbeitnehmer*innen auf dem EU-Arbeitsmarkt, mehr Rechtsklarheit und eine bessere und gut kontrollierbare Umsetzung der Regeln. Eine besondere Gruppe von mobilen Beschäftigten sind Grenzpendler*innen, also Menschen, die in einem EU-Land leben und in einem anderen arbeiten. In meinen vielen Gesprächen mit Unternehmen, Gewerkschaften und Grenzpendler*innen hat sich gezeigt, dass Grenzgänger*innen gegenüber ihren ortsansässigen Kolleg*innen öfter benachteiligt werden. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Doppelbesteuerung des Kurzarbeitergeldes für Grenzgänger*innen, die ihren Wohnsitz in Frankreich haben und in Deutschland arbeiten.
Viele Staaten profitieren von unserem europäischen Arbeitsmarkt und sind auf Arbeitskräfte aus anderen EU-Ländern angewiesen, wollen aber nicht für deren soziale Absicherung aufkommen. Aber wie sagen die Briten so schön:,,You can't have your cake and eat it.“ Leider haben wir es nicht geschafft, unter dieser erfahrenen deutschen Ratspräsidentschaft die Verhandlungen erfolgreich abzuschließen, was bedeutet das der Status quo der Verordnung vorerst weiter gilt. Nun liegt es in der Hand des anstehenden portugiesischen Vorsitzes den Ball gemeinsam mit dem Europäischen Parlament ins Tor zu tragen und eine Verbesserung für die Arbeitnehmer*innen und Unternehmen erreichen.
Das langfristige Ziel muss also lauten: Soziale Grundrechte der EU-Bürger*innen müssen auf der Prioritätenliste der EU-Institutionen endlich auf einer Ebene mit den wirtschaftlichen Grundfreiheiten stehen. Dafür setze ich mich ein.
Nach langwierigen Verhandlungen wurde am 10. Dezember eine Einigung über das Wiederaufbauprogramm „NextGenerationEU“ und den siebenjährigen Finanzrahmen der EU erreicht – mit einem Gesamtvolumen von 1,8 Mrd. Euro. Wie zufrieden sind Sie mit dem Ergebnis?
Bischoff: Der Wiederaufbaufonds „NextGenerationEU“ ist das größte Konjunkturpaket, das je aus dem EU-Haushalt finanziert wurde. Aber der Umfang der Gelder alleine sagt noch nichts über seine Wirkungskraft aus. Der Rettungsschirm muss für alle Menschen in Europa aufgespannt werden und wir müssen sicherstellen, dass die EU-Mittel auch wirklich überall da ankommen, wo sie am meisten gebraucht werden: in Städten, Gemeinden, bei sozialen Projekten und Wohlfahrtsverbänden.
Für mich ist es ein großer Erfolg, dass durch das Europäische Parlament neben dem Wiederaufbaufonds ebenfalls eine Aufstockung der EU-Leitprogramme im mehrjährigen Finanzrahmen verhandelt wurde. Bevölkerungsgruppen, die durch die Pandemie besonders stark betroffen sind, wie beispielsweise Kinder, Jugendliche, aber auch Künstler*innen, können so weiterhin auf Gelder aus Programmen wie dem Europäischen Sozialfonds (ESF) oder Creative Europe zählen. Allerdings ist die Gesamthöhe der Fördermittel aus dem ESF niedriger als wir es im Parlament gefordert haben. Das ist bedauerlich, da auch in Deutschland auf lokaler Ebene viele soziale Initiativen auf diesen Fördertopf angewiesen sind.
Auch die Knüpfung von Ausgaben an die EU-Klimaziele, den Erhalt von Biodiversität und an Geschlechtergerechtigkeit sehe ich als eine sehr positive Errungenschaft des Parlaments in den Verhandlungen an.
Nicht zuletzt ist zu begrüßen, dass künftig die Einhaltung von Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit ein Kriterium für die Vergabe von Geldern an die Mitgliedsstaaten sein wird. Wer wie Ungarn und Polen die Pressefreiheit einschränkt, das unabhängige Justizsystem schwächt und Minderheitenrechte mit den Füßen tritt, darf nicht von EU-Mitteln profitieren. Die ungarische und polnische Regierung schaden mit ihrer Blockadehaltung nicht zuletzt ihrer eigenen Bevölkerung, die dringend auf EU-Mittel zur Bewältigung der Corona-Krise angewiesen ist.
Vielen Dank an Gaby Bischoff und ihrem Büro für diesen Beitrag.