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Die Corona-Pandemie begünstigt Überschuldung: Politisches Handeln ist gefragt.

November 2020: die Corona-Pandemie hat Deutschland nach wie vor fest im Griff. Während Politik und Wirtschaft hart um das richtige Maß bei der Pandemiebekämpfung ringen und versuchen, die Auswirkungen auf das Leben der Bürger möglichst verträglich zu halten, zeigt sich bei genauerer Betrachtung ein durchaus besorgniserregendes Bild: das gesellschaftliche Leben kommt durch die strengen Bestimmungen des Lockdowns vielerorts quasi zum Erliegen, die Arbeitslosenquote verbleibt auf hohem Niveau, Kurzarbeit ist weiterhin für Millionen Arbeitnehmer zum ungewollten Standard auf Zeit geworden, Soloselbständige leiden unter den Einschnitten in ihre freiberufliche Existenz: kurz, die Sorge um die wirtschaftliche Existenz wird für viele zu einer sie umtreibenden Frage.

Während die psychischen Auswirkungen der Corona-Pandemie für die Betroffenen häufig nur zu erahnen sind, zeigen sich die finanziellen Folgen inzwischen zunehmend. Dies zeigt sich exemplarisch auch an den steigenden Beratungsanfragen in den Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen des DRK.

Wo stehen wir?

Durch die Corona-Pandemie kommt es zu einer Verschärfung ökonomischer Lebenslagen: Während einerseits Teile der Gutverdienenden durchaus in der Lage waren und sind, ihren Einkommens- und Lebensstandard aufrechtzuerhalten, ist dies andererseits für viele Menschen nicht ohne Weiteres möglich. Fälle von pandemiebedingter Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit sind nur exemplarische Beispiele, an denen sich ein Abrutschen des individuellen Einkommensniveaus ablesen lässt. Während viele Betroffene mit dem verbleibenden Einkommen  haushalten und ggf. Sparüberschüsse für noch die ungewisse Zukunft erzielen, ist dies für viele Geringverdienern kaum möglich. Die Corona-Pandemie und ihre ökonomischen Auswirkungen führen bereits jetzt, und perspektivisch auch in Zukunft trotz politischer Maßnahmen, zu einer spürbaren Polarisierung der Einkommenssituation.

Alles Panikmache? Ein Blick auf die Überschuldungsbilanz

Dieses „ungute Bauchgefühl“, von dem in der Beratungspraxis bereits seit Längerem mit Blick auf die Corona-Pandemie und ihre Situation für die Überschuldungssituation gesprochen wird, wird durch die neusten Erkenntnisse aus dem jüngst veröffentlichten Schuldneratlas 2020 untermauert.[1] In der Rückschau auf das bisherige Jahr 2020 sank die Anzahl der Überschuldeten leicht auf aktuell immer noch 6,85 Millionen Personen und auch die Anzahl der beantragten Verbraucherinsolvenzverfahren ist mit Blick auf den November um 60% gegenüber dem Vorjahresmonat geschrumpft.[2] Diese Zahlen sind auf den ersten Blick ermutigend, geben jedoch auf den zweiten Blick nur bedingt Grund für Optimismus.[3]

Darüber hinaus und von den zunächst ermutigenden Zahlen losgelöst ist den Analysten zufolge mit Blick auf die folgenden Monate und Jahre mit einem spürbaren Anstieg von Überschuldungsfällen im Zuge der Auswirkungen der Corona-Pandemie zu rechnen. Es wird sogar vermutet, dass die langfristigen Auswirkungen des Krisenzustands für Wirtschaft und insbesondere die Verbraucher, trotz bisheriger politischer Maßnahmen, die finanziellen Auswirkungen aus früheren Finanzkrisen übertreffen werden.[4] Schuldnerberater selbst sprechen offen darüber, dass die Auswirkungen der Corona-Pandemie die Beratungsstellen ohne Weiteres für die nächsten fünf bis zehn Jahre beschäftigen werden – und dabei handelte es sich um noch eher vorsichtige Einschätzungen.

Überschuldungsursachen im Brennglas der Corona-Pandemie

Blickt man auf die häufigsten Gründe für Überschuldung werden zumeist Schicksalsschläge wie etwa Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Scheidung genannt. Diese Ereignisse nehmen auch im Zuge außerordentlicher Umstände wie der Corona-Pandemie nicht ab, sondern werden aufgrund des Drucks auf die individuelle Lebenssituation vielmehr unverhältnismäßig stark verstärkt. Auch solche Fälle, in denen eine Überschuldung etwa durch überzogenen Konsum selbst verschuldetet wird, werden in Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und wachsender Jobunsicherheiten wohl eher spürbar zunehmen und eine sich insgesamt ausweitende Überschuldung begünstigen.

Die Corona-Pandemie wirkt sich also trotz aller bisher ergriffenen politischen Maßnahmen zu ihrer Kontrolle und Eindämmung sowohl kurz-, mittel- und wohl auch langfristig auf das gesellschaftliche und insbesondere individuelle Leben aus. Die Pandemieentwicklung fungiert dabei neben ihrer akut-gesundheitlichen Auswirkung wie ein gesellschaftliches Brennglas und legt die bereits bestehenden und sich verschärfenden ökonomischen und sozialen Ungleichheiten offen. Der Katalysator-Effekt der Pandemie wird nicht nur ohnehin bereits prekäre Lebenslagen weiter verfestigen, sondern auch der gesellschaftlichen Ungleichheit und Spaltung weiter Vorschub leisten.

Mehr Personal! Mehr Geld! Dann ist alles gut?

Für die Schuldner- und Insolvenzberatung des DRK heißt die zu beobachtende Entwicklung nicht nur, dass (zeitnah) mit einem Anstieg der Beratungsanfragen zu rechnen sein wird. Sondern auch, dass einem Großteil der in Not geratenden Personen nicht die notwendige Hilfe gewährt werden kann. Dies ist einerseits ein Kapazitätsproblem, da schon jetzt in vielen Beratungsstellen nur mit Wartelisten gearbeitet werden kann und die Nachfrage das vorhandene Angebot um ein Vielfaches übersteigt. Es liegt angesichts des Status Quo und der zu erwartenden Entwicklung durch die Corona-Pandemie auf der Hand, dass zur Abfederung der Beratungsbedarfe eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung der Beratungsstellen dringend notwendig ist. Aber ist es damit getan? Nein.

Aufwertung der Schuldnerberatung: raus aus der Nische!

Darüber hinaus zeigt sich angesichts einer schon jetzt bestehenden Überschuldungsquote von ca. 10% der Bevölkerung und einer sich weiter verschärfenden Entwicklung die unmittelbare gesellschaftliche Relevanz der Schuldner- und Insolvenzberatung. Um den von Überschuldung betroffenen Menschen die dringend benötigte politische Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, muss die Politik auch die Schuldner- und Insolvenzberater als helfende Hand in den Blick nehmen. Es ist daher – auch mit Blick auf eine anzustrebende bundeseinheitliche Finanzierung – unmittelbar notwendig, eine bundespolitische Ressortverantwortlichkeit für die Schuldner- und Insolvenzberatung festzuschreiben und die Belange von Millionen überschuldeter Menschen künftig stärker zu berücksichtigen.

Zuletzt weist der zu befürchtende Überschuldungsanstieg infolge der Corona-Pandemie auf die Frage der „Zielgruppe“ von Schuldnerberatung. Die Corona-Pandemie lehrt uns, dass Menschen bis zuletzt alles versuchen, um Hilfebedürftigkeit abzuwenden oder gar nicht erst entstehen zu lassen – nicht selten jedoch, bevor die Überschuldungsfalle bereits zugeschnappt hat. Gerade mit Blick auf die Vielzahl an betroffenen Selbständigen und Menschen in Kurzarbeit sollte die Entwicklung ein Warnsignal sein, dass diese Menschen akut von Überschuldung bedroht sein können – sie jedoch kein Anrecht auf kostenfreie Hilfe haben.

Deshalb muss dringend die gesetzliche Bedürftigkeitsregelung bzw. die Begrenzung des Anspruchs auf kostenfreie Schuldnerberatung auf Hilfebedürftige gem. SGB II und/oder SGB XII überarbeitet und stattdessen ein individueller Rechtsanspruch auf – auch präventive – Schuldnerberatung eingeführt werden. Nur so kann Schuldner- und Insolvenzberatung die ihr zugewiesene gesellschaftliche Aufgabe wahrnehmen und Menschen in akuter sowie drohender Not umfassende Hilfe anbieten.

The time is right & the time is now

Die skizzierten Befunde des Schuldneratlas sowie die Rückmeldungen aus den Beratungsstellen des DRK zeigen, dass mit der Corona-Pandemie eine unberechenbare Dynamik der Überschuldung einhergeht, deren Mittel- und Langfristfolgen ihrem Ausmaß noch nicht abschließend abzuschätzen sind – die vorliegenden Prognosen lassen jedoch große Herausforderungen erwarten.

Deswegen ist gerade jetzt und angesichts einer unklaren Zukunft für Millionen Menschen ein entschlossenes Lernen aus der Krise und eine proaktive Weichenstellung für die Zeit danach dringend angeraten. Die Corona-Pandemie erfordert angesichts ihrer bisherigen gesellschaftlichen Auswirkungen und des vorausgeworfenen Schattens politische Gestaltung statt Reaktion. Diese Chance sollte nicht verstreichen.


Quellenangaben

[1]https://www.creditreform.de/aktuelles-wissen/pressemeldungen-fachbeitraege/news-details/show/default-16006b533b

[2]https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/11/PD20_454_52411.hml

[3] Ein Teil des Überschuldungsrückgangs im Vorjahresvergleich erklärt sich einerseits durch verdeckte bzw. noch nicht eingestandene Überschuldung der Betroffenen und andererseits mit der noch schwebenden Gesetzesänderung der Insolvenzordnung (InsO), die eine Verkürzung der sog. Wohlverhaltensperiode von zuvor sieben auf geplant drei Jahre nach Durchlaufen des Insolvenzverfahrens vorsieht. Wegen dieser geplanten und für den Schuldner vorteilhaften  Neuregelung ist zu vermuten, dass eine Vielzahl überschuldeter Personen die Beantragung eines Insolvenzverfahrens verzögern, bis die Gesetzesänderung in Kraft getreten ist.

[4]https://www.handelsblatt.com/finanzen/vorsorge/altersvorsorge-sparen/schuldneratlas-2020-gravierender-als-die-weltfinanzkrise-experten-erwarten-zunahme-der-ueberschuldungen/26607602.html?ticket=ST-15551875-Qc9dzO5VtzccCLCqZBZG-ap5

Links & weiteführende Informationen

Bei (drohender) Überschuldung finden Sie auf den Seiten des DRKBeratungsstellen in Ihrer Nähe.

Wichtige Antworten auf Fragen zum Thema Überschuldung und zur Arbeit von gemeinnützigen sozialen Schuldnerberatungen finden Sie  auf dem Informationsportal www.meine-schulden.de der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung e.V.