Als man sie um ihre Unterstützung bat, hat Tanja Schallmaier zuerst mit ihrem Lebenspartner und ihrer Familie gesprochen. Tanja hat drei Kinder im Alter von 10, 13 und 16 Jahren und ist alleinerziehend. Ohne diesen Rückhalt im engsten Kreis wäre es nicht gegangen, sagt sie.
Wie groß ist Eure Einrichtung und welche Funktion hast Du?
Wir sind ein kleines Haus mit 43 Betten, vier Tagespflegeplätzen und 43 Mitarbeiter*innen, demnächst werden wir uns aber auf 70 bis 80 Betten vergrößern. Ich bin examinierte Krankenschwester und war viele Jahre in der Intensivmedizin und auch palliativ tätig. Nach meiner Familienzeit bin ich in die Altenpflege gewechselt, habe mich weitergebildet und im Juni 2019 in St. Ägidius als Pflegedienstleitung angefangen. Ich habe mich dann berufsbegleitend zur Einrichtungsleiterin qualifiziert und bin seit 1. November 2020 Pflegedienst- und Einrichtungsleitung in Personalunion. Außerdem bin ich, gemeinsam mit meiner Stellvertreterin, auch Praxisanleiterin für unser Haus. Wir haben vier Auszubildende, was viel ist für eine kleinere Einrichtung.
Welche Tätigkeiten sind Dir besonders wichtig und warum?
Mir liegt das Miteinander sehr am Herzen. Sobald ich meinen Computer hochgefahren habe, gehe ich erst einmal auf die verschiedenen Stationen und frage, wie es geht und ob ich helfen kann. Wenn es irgendwo brennt, gehe ich oft auch erst einmal mit in die Pflege, bevor ich in mein Büro zurückkehre. Ich führe auch die Grundpflege oder den Verbandswechsel durch und bin gern nah an den Bewohner*innen und den Mitarbeiter*innen dran. Denn nur dann, bekomme ich ein Auge und ein Ohr für die Probleme, die sie gerade haben.
Die Pandemie stellt die Welt auf den Kopf. Die Bewohner*innen, zu Pflegenden und ihre Familien brauchen Euch jetzt mehr denn je. Was hat sich in Deiner Arbeit für Dich verändert? Welche Maßnahmen habt Ihr ergriffen?
Die Schutz- und Hygienekonzepte werden laufend angepasst und wir schreiben auch immer wieder neue Konzepte. Jede(r) neue Bewohner*in wird vierzehn Tage protektiv isoliert. Der Raum kann dann nur mit Vollschutzkleidung betreten werden. Die Mitarbeitenden erhalten immer neue Schulungen, es wird laufend desinfiziert und trotz allem haben wir ein offenes Ohr für die Bewohner*innen, die unter der Situation extrem leiden. Wir testen unsere Mitarbeiter*innen dreimal in der Woche mithilfe von PoC-Antigen-Tests. Die Bewohner*innen einmal. Das alles läuft nebenher. Bis vor Kurzem mussten wir außerdem jeden Besuchenden testen. Das hat jetzt das BRK-Ehrenamt übernommen, da wir es personell nicht mehr stemmen konnten. Die Tests müssen ja auch dokumentiert werden. Unser Haus ist bereits das zweite Mal geimpft. Das haben wir auch nebenbei erledigt. Wir haben die Betreuer*innen angeschrieben, Einwilligungen eingeholt, nachtelefoniert und die Impfungen begleitet. Bei uns finden nach wie vor Besuche statt. Das ist aber nicht einfach. Wir haben viele demente Bewohner*innen. Aufgrund der Kontaktbeschränkungen kommen die demenziellen Schübe viel schneller, als das vielleicht sonst der Fall wäre. Durch den Abstand und die Plexiglasscheibe können die Bewohner*innen ihren Sohn oder ihre Tochter oft nicht erkennen, weil das Glas spiegelt. Manche können auch gar nicht so weit gucken oder sind schwerhörig. Ich bin mir nicht sicher, ob man sich bei Erlass der Regelungen darüber Gedanken gemacht hat, was die Einschränkungen für die Menschen tatsächlich bedeuten. Einer unserer Bewohner*innen freut sich sehr, wenn ihn seine Tochter besuchen kommt, und sagt schon im Aufzug permanent ihren Namen. Er kommt dann in die Halle, in der der Besuch stattfindet, und möchte seine Tochter in den Arm nehmen. Das darf er aber nicht. Die psychischen Beeinträchtigungen aufgrund der Kontaktbeschränkungen sind immens. Wir versuchen die Einzelbetreuungen zu stärken und feiern, unter Berücksichtigung aller Vorsichtsmaßnahmen, trotz allem unsere Feste, wie Nikolaus und Weihnachten. Aber wir können nicht alles auffangen. Viele der Bewohner*innen leiden an gebrochenem Herzen, weil sie ihre Angehörigen nicht mehr in den Arm nehmen dürfen. Das macht uns alle zutiefst betroffen.
Wie funktioniert das komplexe Thema Eigenschutz?
Ab März 2020 haben wir Mund-Nase-Bedeckung getragen und arbeiten seit August/ September mit FFP2-Maske. In der Altenpflegeeinrichtung in Hirschau haben wir den ganzen Tag die Vollschutzausrüstung getragen, also Overall, FFP2-Maske, Spritzschutzbrille, Schuhschutz und zweifach Handschuhe. Wir haben uns ungefähr vierzig Mal am Tag die Hände desinfiziert – bis sie am Ende blutig waren. Wenn wir in die Pause gegangen sind, haben wir uns nach einem ganz bestimmten Schema entkleidet. Die Getränkeflaschen haben wir mit einem Flächendesinfektionstuch abgewischt, bevor wir daraus getrunken haben. Man wird sehr sensibel, was das angeht.
Warum hast Du aus Deiner Einrichtung in Vilseck nach Hirschau gewechselt?
Im April 2020 war das dortige BRK-Senioren- und Pflegeheim zu einem Corona-Hotspot geworden. Damals wurden 52 Mitarbeiter*innen und 59 Bewohner*innen Corona positiv getestet, auch die gesamte Führungsriege war im Krankenstand. Das Heim zählt zu den vier BRK-Einrichtungen in unserem Landkreis. Aus jedem der drei anderen BRK-Heime (Ensdorf, Kastl und Vilseck) sind damals zwei Mitarbeiter*innen für einen Monat nach Hirschau berufen worden, weil kein Personal mehr da war. Auch die Schwesternschaft hat sechs Mitarbeiter*innen gestellt. Als ich in Hirschau begann, war ich von jetzt auf gleich Heim- und Pflegedienstleitung, Fachkraft und Verwaltungsangestellte in einer Person. Das war eine Herausforderung, weil ich weder das Haus noch die Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen kannte. Eine Kollegin aus Vilseck hat mich begleitet, aber noch am Tag unserer Ankunft habe ich zwei weitere Mitarbeiter*innen gebeten, zu kommen.
Für Deinen Einsatz in Hirschau bist Du für die „Florence Nightingale Medal“ nominiert. Welche Entscheidungen hast Du dort treffen müssen, um Menschen zu schützen?
Zunächst haben wir die negativ getesteten Bewohner*innen sofort in einen separaten Wohnbereich verlegt und die positiv getesteten in einen anderen. Wir mussten uns dann erst einmal ein Bild über den Gesundheitszustand der Menschen machen. Wem geht es schlecht und wer ist vielleicht sogar symptomfrei? Vom ersten Tag an habe ich auch mit Mitarbeiter*innen gearbeitet, die selbst infiziert und symptomfrei waren und die eine Sondergenehmigung vom Gesundheitsamt hatten. Wir haben bereits am zweiten Tag mit Infusionen begonnen. An der Stelle kam mir meine Erfahrung auf der Intensivstation zugute. Denn die Menschen trinken irgendwann nichts mehr. Wir haben innerhalb von 10 Tagen 80 Liter infundiert. Es ging dann besser. Viele Menschen habe ich aber auch ins Krankenhaus verlegt. Ich erinnere, dass ich an einem Tag zwölf Bewohner*innen eingewiesen habe. Wir haben die Menschen alle zwei Stunden gelagert. Durch diese Maßnahmen konnten wir bei vielen das Schlimmste verhindern.
Was bedeutet Dir diese Nominierung?
Die Nominierung sehe ich stellvertretend für mein gesamtes Team. Ohne meine Mitarbeiter*innen, auch diejenigen, die in der Stammeinrichtung gearbeitet haben, wäre Hirschau nicht möglich gewesen. Jeder ist in der Not über sich hinausgewachsen. Alle haben ihre Reserven mobilisiert, Vilseck ist ohne Probleme weitergelaufen. Keiner ist krank geworden. Ich bin unglaublich stolz auf mein Team.
So ein Erleben macht ja auch etwas mit uns. Wie verarbeitest Du eine solche Erfahrung?
Das begleitet mich noch immer. Ganz häufig sprechen wir im Team darüber, denn es war eine sehr belastende Zeit. 21 Menschen haben trotz allem, ihr Leben verloren. Viele haben es geschafft. Wir haben 30 Tage durchgearbeitet, zwischen 12 und 15 Stunden am Tag. Das war ein Kraftakt, der uns aber auch gezeigt hat, was wir schaffen können, wenn wir zusammenhalten.
Ihr werdet dort gebraucht, stellt alles Private zurück, rückt zusammen und bringt das nach vorn?
Wir alle in der Pflege üben diesen Beruf aus, weil wir dafür brennen. Uns geht es allein um die Menschen. Es ist seit über 20 Jahren mein Wunschberuf. Wenn ich nochmal wählen müsste, ich würde mich wieder dafür entscheiden.
Wie ist es Dir in der Situation mit der Ungewissheit und der Angst ergangen, sich infizieren und das Virus ggfs. übertragen zu können?
Meine Kinder wussten, wenn ich aus Hirschau komme, müssen sie in ihren Zimmern bleiben und warten bis ich aus der Dusche komme. Ich habe mich vor meiner Wohnungstür ausgezogen, die Sachen in einen Beutel luftdicht verpackt und für 48 Stunden gelagert. Für die Kinder war die Zeit nicht einfach, denn sie durften auch sonst nicht nah an mich heran. Nach meinem Einsatz war ich dann für 14 Tage in Eigenquarantäne und habe zuletzt noch einen negativen PCR-Test vorgelegt, bevor ich zurück in meine Stammeinrichtung durfte. Über mich selbst habe ich mir gar nicht so viele Gedanken gemacht, ich bin gesund, gehöre zu keiner Risikogruppe und habe durch meine Ausbildung gelernt, mich zu schützen. Was mir eher Angst macht ist, diese soziale Isolation. Auch die meiner Kinder durch das Homeschooling. Diese Ausweglosigkeit, in der sie sich stellenweise sehen, ihr Sorge benachteiligt zu werden, weil sie trotz allem einfach viel verpassen. Da stellt sich für mich die Frage, was macht das alles mit uns als Gesellschaft? Können wir, wenn wir keinen Lockdown mehr haben, noch normal miteinander umgehen?
Wofür müsste mehr Zeit da sein, während der Krise – aber auch generell?
Für die Pflege. Für Gespräche. Für Biografiearbeit. Das ist ein wichtiges Thema, gerade bei demenziell Erkrankten, um sie an manchen Punkten zurückzuholen. Wir brauchen mehr Zeit für das Miteinander. In jedem Haus müsste es mehr Pflegepersonal geben. Mehr Zeit für Aktivitäten. Ich habe einen Bewohner, der bettlägerig ist und kassenärztlich 10 Minuten Einzelbetreuung pro Tag erhält. 10 Minuten, was ist das schon auf 24 Stunden gerechnet. Ich finde, alte Menschen werden von der Politik vergessen. Sie haben ihr ganzes Leben hart geschuftet. Vieles entbehrt, das Land aufgebaut. Man muss sich Zeit nehmen können.
Das ist auch eine Form von Pflege.
Natürlich.
Was unterscheidet Deine Rotkreuz-Einrichtung positiv (zu früheren Arbeitsstellen / anderen Anbietern)?
Das sind die Weiterbildungsmöglichkeiten, die mir und meinen Mitarbeiter*innen geboten wurden. Das ist einfach toll. Und dieses Zusammengehörigkeitsgefühl. Das gibt es so woanders nicht. Das zeigt sich jetzt auch wieder in der Pandemie.
Als Du Dich für diesen Beruf entschieden hast, war eine Situation wie diese kaum vorstellbar. Was bewegt Dich jeden Tag aufs Neue, die Herausforderungen anzunehmen?
Meine Familie gibt mir wahnsinnig viel Kraft. Sie hat mir den Rücken freigehalten, damit ich mich weiterentwickeln kann und sie begleitet mich. Und ich freue mich jeden Tag, wenn ich in die Arbeit darf. Wir unterstützen uns hier gegenseitig, alle ziehen an einem Strang. Meine Mitarbeiter*innen sind für mich wie eine zweite Familie. Wir treffen uns auch privat.
Was bestärkt Dich, das Richtige zu tun?
Mein Bauchgefühl, mein Berufsethos und das Gefühl, den Menschen etwas zurückgeben zu können. Etwas bewirken zu können.
Welche schönen Momente geben dir Kraft und Zuversicht?
Auch in unserer Einrichtung hatten wir vier Bewohner*innen, die positiv getestet waren. Zwei von ihnen hatten sich bei ihren Angehörigen angesteckt und zwei bei Aufenthalten im Krankenhaus. Einer der Bewohner war sechs Wochen lang positiv, wir hatten ihn in einem Quarantänebereich isoliert. Er dachte, er kehrt nie mehr auf sein Zimmer zurück. Auch wir glaubten, wir verlieren ihn und hatten seinen Sohn verständigt. Aber er hat dann doch überlebt. Als wir ihn endlich in sein Zimmer zurückfahren konnten, hat er geweint. Und wir alle mit ihm. Zwischenzeitlich hat er sich wieder gut erholt und so viel neuen Lebensmut. Das ist einfach wahnsinnig schön zu sehen.
Gibt es einen Gedanken, den Du teilen möchtest? Liegt Dir etwas besonders am Herzen?
Corona zeigt uns die Probleme, die wir in der Pflege haben, mit dem Brennglas. Wir haben sie seit Jahrzehnten. Ich hoffe, dass wir durch die Pandemie dazulernen, damit die Pflege gesellschaftsfähig wird. Es muss sich endlich etwas ändern. Der Pflegeberuf braucht Anerkennung. Nicht die, bei der man von den Balkonen klatscht. Unser Beruf hat so viele schöne Facetten, man sollte sie sehen können! Damit auch junge Menschen wissen, dass es sich lohnt, in die Pflege zu gehen. Dass es sich lohnt, sich diesen Beruf einmal genauer anzuschauen.
Redaktionsteam
Heike Harenberg, Natascha Baumhauer
In Kooperation mit
Dorian Lübcke, Christian Hener
Das Interview ist Teil des Projekts „DRK erleben“ und wird mit Mitteln der GlücksSpirale gefördert.
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