Seit russische Truppen vor fast vier Monaten in die Ukraine einmarschiert sind, sind Millionen von Menschen aus dem Land geflohen und suchen Schutz in den Ländern Europas. Angesichts dieser enormen Herausforderung für die Staaten der EU waren die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Reaktion der Mitgliedstaaten außergewöhnlich und zeigten das Potenzial eines Kontinents, seine Türen und Ressourcen für Menschen zu öffnen, die mit einer humanitären Krise konfrontiert sind. Bürgerinnen und Bürger haben außergewöhnliche Unterstützung geleistet, ebenso wie die EU-Institutionen und die nationalen Regierungen politische Handlungsfähigkeit gezeigt haben. So konnten Menschen, die aus den umkämpften Gebieten in der Ukraine geflüchtet sind, unbürokratisch einreisen und Hilfe erfahren.
Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie
Zum ersten Mal überhaupt wurde die Richtlinie 2001/55/EG der EU über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen aktiviert. Diese so genannte „Massenzustrom-Richtlinie“ wurde im Jahr 2001 als Reaktion auf die Auswirkungen des Jugoslawienkriegs in den 1990er Jahren beschlossen. Mit ihr soll eine vorübergehende Aufnahme von Schutzsuchenden ermöglicht werden, ohne dass diese ein Asylverfahren durchlaufen müssen. Neben der Erteilung des bis auf drei Jahren befristeten Aufenthaltstitels erhalten die Menschen unbürokratisch Zugang zu Arbeit, Bildung, Sozialleistungen und gesundheitlicher Versorgung.
In Deutschland wurde die Regelung über § 24 Aufenthaltsgesetz umgesetzt. Absatz 1 lautet:
Einem Ausländer, dem auf Grund eines Beschlusses des Rates der Europäischen Union gemäß der Richtlinie 2001/55/EG vorübergehender Schutz gewährt wird und der seine Bereitschaft erklärt hat, im Bundesgebiet aufgenommen zu werden, wird für die nach den Artikeln 4 und 6 der Richtlinie bemessene Dauer des vorübergehenden Schutzes eine Aufenthaltserlaubnis erteilt.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung zum Juni mit dem „Sofortzuschlags- und Einmalzahlungsgesetz“ unter anderem den Rechtskreiswechsel ermöglicht, so dass die Schutzsuchenden nun reguläre Sozial- und Gesundheitsleistungen erhalten können, statt der deutlich eingeschränkten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (mehr dazu in unserem Live-Blog „Hilfe und Unterstützung für geflüchtete Menschen aus der Ukraine“).
Neue Maßstäbe für alle Schutzsuchenden
Während die Umsetzung des vorübergehenden Schutzes noch Raum für Verbesserungen lässt, sowohl in Bezug auf den Umfang der unterstützten Personen als auch in Bezug auf die Verfügbarkeit nachhaltiger Unterbringungslösungen, hat die rasche Umsetzung auffallende Unterschiede zu den Bedingungen für andere Schutzsuchenden in den EU-Mitgliedstaaten deutlich gemacht. Auch in Deutschland zeigte sich schnell, dass Geflüchtete aus der Ukraine in vielen Bereichen besser gestellt sind als Geflüchtete aus anderen Herkunftsländern (mehr dazu im Blog-Beitrag vom 25.04.2022).
Zu oft erleben Schutzsuchende in der EU lange und anstrengende Wartezeiten in langwierigen Asylverfahren, die sie daran hindern, sich sicher zu fühlen und Perspektiven für ihr Leben zu entwickeln. Sie erleben oft schwierige Bedingungen in Aufnahmezentren und haben nur eingeschränkten Zugang zu grundlegenden Leistungen, einschließlich Gesundheitsversorgung und psychosozialer Unterstützung. Darüber hinaus schränken begrenzte Beschäftigungsperspektiven die Teilhabemöglichkeiten vieler Menschen ein, da sie über Jobs mit niedrigem Einkommen und kurzen Befristungen kaum hinaus kommen.
Den Impuls aufnehmen und die Flüchtlingspolitik der EU weiterentwickeln
Die mutigen Maßnahmen der EU und der Mitgliedstaaten zur Unterstützung von Menschen, die aus der Ukraine fliehen, haben gezeigt, was möglich ist, wenn die Menschlichkeit in den Mittelpunkt der Reaktion gestellt wird. Diese Erfahrung sollte den Impuls geben, um die gemeinsame Flüchtlingspolitik so weiter zu entwickeln, dass die Würde aller Schutzsuchenden in der EU gewährleistet ist. Die den Vertriebenen angebotene Unterstützung kann nicht davon abhängen, woher sie kommen oder wie und wann sie Europa erreichen.
Die laufenden Diskussionen über die Weiterentwicklung der gemeinsamen Migrations- und Asylpolitik der EU-Staaten bieten eine Gelegenheit sich dem universellen Wert der Solidarität und der Menschlichkeit zu verpflichten. Wichtig ist, dass der künftige Migrationsansatz der EU das Recht auf internationalen Schutz wahrt, menschenwürdige Aufnahmeeinrichtungen sicherstellt und Integration und Teilhabe als Leitprinzip verankert.