Ungesehen?! – Ergebnisse der Bedarfserhebung von geflüchteten Menschen mit Behinderungen in Deutschland vorgestellt

“(...) imagine, there are people who don't know the language, they have no idea how to have contact, how to gather information (...) and of course they miss lots of services which are available and what they need”
(DRK-Interview mit einer geflüchteten Person im Rahmen der Bedarfserhebung).

Bei geflüchteten Menschen mit Behinderungen handelt es sich um eine besonders vulnerable Gruppe von Zugewanderten: einerseits aufgrund ihrer Fluchterfahrung und andererseits aufgrund ihrer Behinderungen und den damit einhergehenden Teilhabebeschränkungen. Die Realität in Deutschland zeigt jedoch: Es bestehen weiterhin zahlreiche Barrieren und Versorgungslücken bei der Aufnahme von geflüchteten Menschen mit Behinderungen, und zwar sowohl in den Aufnahmeeinrichtungen der Länder als auch später in der kommunalen Unterbringung.
 

Zu den Behinderungen zählen langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen, die die betroffene Person in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können (UN-BRK, Artikel 1).
 

Das Deutsche Rote Kreuz hat in letzten zwei Jahren eine Erhebung der Bedarfe von geflüchteten Menschen mit Behinderungen in drei Bundesländern durchgeführt (Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein). Bei der Auswahl der Bundesländer wurde darauf geachtet, dass sie verschiedene Charakteristika aufweisen, die für eine Bedarfserhebung interessant sind – beispielsweise ländlich versus städtisch geprägt, strukturschwach versus strukturstark, hohe versus niedrige Aufnahmequote von Geflüchteten. Es wurden über 60 Interviews mit geflüchteten Menschen mit Behinderungen, deren Familienangehörigen, mit Fachkräften in Unterkünften und in Beratungsstrukturen sowie in Behörden gesprochen, so dass ein breiter Erkenntnisgewinn über die Situation von Geflüchteten mit Behinderungen in Deutschland erreicht wurde.

Dabei konnten insgesamt zehn Problemfelder identifiziert werden:

  • Mängel bei der Identifizierung von Behinderungen
  • Gesundheitliche Versorgung
  • Verwaltungspraxis
  • Barrierefreiheit, Teilhabe und Inklusion
  • Fehlende Sensibilisierung
  • Wahrnehmung von Behinderungen
  • Fehlende Kontinuität der Unterstützungsangebote
  • Diskriminierungserfahrungen
  • Partizipation, Empowerment und Selbstvertretung
  • Covid-19 und seine Auswirkungen

Darüber hinaus wurden innerhalb der oben aufgelisteten Problemfelder entsprechend der Art der Unterbringung differenziert (Landesunterbringung, Unterbringung beim Übergang in die Kommune und Unterbringungen in den Kommunen).  

Die Ergebnisse der Bedarfserhebung sowie die Handlungsempfehlungen für Bundes-, Landes und kommunale Ebene wurden in einem Bericht Ungesehen?! Geflüchtete Menschen mit Behinderungen in Deutschland: Ergebnisse der Bedarfserhebung zusammengefasstund im Rahmen einer Online-Veranstaltung mit spannenden Gästen aus Politik, Verwaltung und Praxis am 24.08.2022 vorgestellt. Es diskutierten

  • Dr. Annette Tabbara, Abteilungsleiterin für die Teilhabe und Belange von Menschen mit Behinderungen, Soziale Entschädigung und Sozialhilfe im BMAS
  • Takis Mehmet Ali, MdB, Beauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderungen der SPD-Bundestagsfraktion
  • Janny Armbruster, Beauftragte der Landesregierung Brandenburg für die Belange der Menschen mit Behinderungen
  • Anika Lemke, Flüchtlingsberaterin im DRK Kreisverband Borken in Nordrhein-Westfalen

Dabei unumstritten war das Problem der fehlenden systematischen Identifizierung von Behinderungen bei der Ankunft von Geflüchteten und dem Beginn des Asylverfahrens in Deutschland. Erst wenn Behinderungen identifiziert worden sind, kann sichergestellt werden, dass die Betroffenen die notwendige Unterstützung erhalten und die Gründe für ihre Flucht und ihren Asylantrag umfassend darlegen können. Unter Umständen kann sich dabei die Behinderung auf die Schutzgewährung auswirken, etwa wenn im Herkunftsland eine adäquate medizinische Versorgung nicht gewährleistet werden kann.

Doch nicht nur für das Asylverfahren kann eine fehlende Identifizierung von Behinderungen schwerwiegende Folgen haben. Solange eine Behinderung nicht bekannt bzw. festgestellt ist, bleibt unklar, ob und wenn ja, welche Vorkehrungen für eine bedarfsgerechte Unterbringung und Unterstützung in den Aufnahmeeinrichtungen getroffen werden müssen bzw. ob vielleicht sogar eine andere Art der Unterbringung erforderlich ist. Auch hinsichtlich der Auswahl einer passenden Kommune und der weiteren bedarfsgerechten Unterbringung und Unterstützung ist die Identifizierung von Behinderungen bzw. der mit einer Behinderung einhergehenden Bedarfe notwendig.

Die Frage des „Wie“, also wie eine systematische Identifizierung im nächsten Schritt bundesweit umgesetzt werden könne, wurde unter den Teilnehmenden kontrovers diskutiert. Als wichtige Parameter wurden von kommunaler und Landesebene der Wunsch nach mehr Automatismen bei der Identifizierung der Bedarfe sowie ausreichende finanzielle (Bundes-)Mittel genannt. Nur so könne sichergestellt werden, dass qualifiziertes Fachpersonal vor Ort zur Verfügung stehe – angesichts des vorherrschenden Arbeitskräftemangels eine große Herausforderung! Von Bundesseite wurden die rechtlichen sowie finanziellen Rahmenbedingungen als ausreichend gesehen. Es sei stattdessen die Aufgabe der Länder, bspw. das Bundesteilhabegesetz (BTHG) flächendeckend umzusetzen sowie Kostenübernahmen für medizinische Behandlungen in der Praxis und im Rahmen des geltenden Rechts, sprich Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bzw. SGB II und SGB XII zu regeln.

Sechs Monate nach dem Beginn des Kriegs in der Ukraine stellt sich zudem die Frage: Wie können die Angebote, die in den letzten Monaten für die geflüchteten Menschen aus der Ukraine geschaffen wurden und sich bewährt haben – wie etwa der schnelle Zugang zum SGB II bzw. SGB XII und die schnelle Aufnahme in die gesetzliche Krankenversorgung – auf alle Schutzsuchenden übertragen werden? Einigkeit bestand bei den Teilnehmenden der Veranstaltung dahingehend, dass es keine „zwei Klassen“-Versorgung geben dürfe und allen Geflüchteten die bestmögliche gesundheitliche Versorgung zuteilwerden sollte.

Wie geht es jetzt weiter?

Für uns im DRK ist die Arbeit, nachdem die Bedarfe erhoben und schriftlich ausformuliert wurden, noch lange nicht beendet – ganz im Gegenteil. Die Bedarfserhebung wird für uns eine wichtige Rolle in der anwaltschaftlichen und evidenzbasierten Interessensvertretung gegenüber Politik und Verwaltung spielen. Zudem wollen wir sie bei der Entwicklung bedarfsgerechter Angebote nutzen. Der Krieg in der Ukraine hat nochmal deutlich gezeigt, dass geflüchtete Menschen mit Behinderungen besondere Unterstützung brauchen. An vielen Stellen muss angesetzt werden und wir als DRK freuen uns, in unserer weiteren Arbeit an der Bedarfserhebung anzuknüpfen und auf die Verbesserung der Versorgungslage hinzuwirken!