Chios/ Griechenland, 2017

Neuer EU-Pakt für Migration und Asyl – (k)ein Neustart für die europäische Migrationspolitik?

Unter der bis Ende Dezember andauernden deutschen EU-Ratspräsidentschaft soll ein politischer Konsens für eine erneute Reform der EU-Flüchtlingspolitik erzielt werden. Die EU-Kommission stellte am 23.09.2020 ihren Vorschlag für einen „New Pact on Migration and Asylum“ vor. Der neue Pakt baut auf Reformvorschlägen aus dem Jahr 2016 auf und umfasst einige verbindliche Verordnungen, aber auch unverbindliche Empfehlungen, wie beispielsweise den Ausbau von Resettlement und weiterer legaler Zugangswege. Klar erkennbar liegt der Schwerpunkt der Vorschläge in der Sicherung der europäischen Außengrenzen und der verstärkten Rückführung von nicht-bleibeberechtigten Migrantinnen und Migranten.

Die deutsche Bundesregierung sieht die europäischen Beratungen über das Asylpaket der EU-Kommission auf gutem Wege und Bundesinnenminister Horst Seehofer regt für die kommenden Wochen eine vertiefte Debatte über den neuen Pakt im Bundestag an. Sollte es gelingen, während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft einen politischen Konsens zu finden, könnten in der darauf folgenden portugiesischen Präsidentschaft erste Rechtsakte verabschiedet werden.

Verfahren an den EU-Außengrenzen

Die neuen Vorschläge beinhalten, dass Migrantinnen und Migranten, die über eine Außengrenze in die EU einreisen möchten und kein entsprechendes Recht dazu haben (z.B. auf Grund eines Visums), einem sogenannten Screening-Verfahren („Screening procedure“) unterzogen werden. Dieses Screening-Verfahren soll nicht länger als fünf Tage dauern und kann auf maximal zehn Tage ausgedehnt werden. Es umfasst die Feststellung der Identität, eine Sicherheitsüberprüfung, eine medizinische Untersuchung sowie die Feststellung von besonderen Schutzbedarfen. Obwohl das Screening-Verfahren auf EU-Territorium stattfindet, gelten die Schutzsuchenden als nicht eingereist (Fiktion der Nicht-Einreise).

Nach dem Screening beginnt entweder das reguläre Asylverfahren oder ein neu einzuführendes Grenzasylverfahren („Border procedure“). Rechtsmittel gegen die Entscheidung, welches der Verfahren angewendet wird, sind nicht vorgesehen. Dafür soll ein neu vorgeschlagener Überwachungsmechanismus die Wahrung von Grund- und Menschenrechten an den EU-Außengrenzen sicherstellen.

Reguläres Asylverfahren

Ein herkömmliches Asylverfahren, verbunden mit der Einreise in den jeweiligen Mitgliedsstaat, erhalten all diejenigen Personen, die nicht von vorneherein unter das Grenzasylverfahren fallen. In der Regel wären das Personen aus Ländern, deren Schutzquote gemäß Eurostat-Daten europaweit im Durchschnitt höher als 20 % liegt. Bisher gibt es eine solche Berechnung nicht und die Erfahrungen zeigen, dass ein Mittelwert aufgrund der unterschiedlichen Anerkennungsquoten der EU-Staaten nur schwer herstellbar sein wird.

Das reguläre Asylverfahren wird wie auch nach aktuell geltendem Recht in der Regel im Ersteinreisestaat durchgeführt. Die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedsstaates kann jedoch durch bestehende familiäre Bindungen oder bestimmte Qualifikationen begründet werden. Diese Möglichkeit ist neu und angesichts der Erfahrungen aus Familienzusammenführungen eine Verbesserung zum geltendem Recht.  

Darüber hinaus haben die Mitgliedsstaaten die Möglichkeit, bestimmte Personen aus dem Grenzasylverfahren aufzunehmen und in das reguläre Asylverfahren zu übernehmen. In Betracht kommen hier vor allem Personen, die aus medizinischen Gründen einen besonderen Schutzbedarf haben.

Grenzasylverfahren

Das Grenzasylverfahren („Border procedure“) ist zum einen für Personen vorgesehen, die aus einem Staat kommen, für den gemäß Eurostat-Daten die europäische Schutzquote geringer als 20 % ausfällt. Im Krisenfall kann die Quote angepasst werden, um so den Zugang Schutzsuchender zu verringern. Zum anderen sollen Personen das Grenzasylverfahren durchlaufen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie im Screening-Verfahren falsche Angaben gemacht haben oder Informationen bzw. Dokumente zurückhalten. Die Dauer eines solchen Grenzasylverfahrens wird mit 12 - 20 Wochen angegeben. Während dieser Zeit befinden sich die schutzsuchenden Personen in einer Transitzone, sie gelten als nicht in die EU eingereist.

Im Falle einer Ablehnung des Asylantrags ergeht zugleich die Anordnung der Rückführung („return decision“). Es beginnt das „Grenzrückführungsverfahren“, das ebenfalls bis zu 12 Wochen dauern kann. Unter bestimmten Voraussetzungen kann die zurückzuführende Person in diesem Zeitraum in Haft genommen werden. Rechtsschutz ist vorgesehen, die Rechtsmittel entfalten jedoch nicht in allen Fällen aufschiebende Wirkung, so dass eine Rückführung auch stattfinden kann, wenn das Gerichtsverfahren noch läuft.

Es ist zu erwarten, dass mit der Einführung eines Grenzasylverfahrens weitere Lager an den EU-Außengrenzen errichtet werden, in denen Menschen bis zu 8 Monaten leben. 

Solidarität und Lastenteilung

Um die Staaten mit EU-Außengrenzen zu entlasten, sind verschiedene Möglichkeiten der Lastenteilung („Solidarity contributions“) vorgesehen:

  • die Aufnahme von Asylsuchenden, die sich im regulären Asylverfahren befinden oder bereits anerkannt sind („Relocation“),
  • die Übernahme von sogenannten „Rückkehrpatenschaften“ („Return sponsorships“),
  • Maßnahmen zur Stärkung der Kapazitäten im Bereich Asylverfahren, Aufnahme, Rückführung („capacity-building measures“)

Bevor einer dieser drei Mechanismen greift, bedarf es einer Feststellung durch die EU-Kommission, dass ein Mitgliedsstaat unter „Migrationsdruck“ („migratory pressure“) steht oder Unterstützung aufgrund der Aufnahme von aus Seenot geretteten Menschen benötigt. Der jeweilige Umfang des Engagements bemisst sich nach Gesamtbevölkerung und Bruttoinlandsprodukt des sich solidarisch zeigenden Mitgliedsstaats.

Ein ganz neuer Vorschlag findet sich in den sogenannten „Rückkehrpatenschaften“ („Return sponsorships“). Danach kann ein Staat, anstatt selbst Personen aufzunehmen, einen anderen Mitgliedsstaat bei der Abschiebung von nicht-bleibeberechtigten Personen unterstützen und hierbei auch auf dessen Staatsgebiet operieren. Wenn die Abschiebung innerhalb von acht Monaten nicht vollzogen werden kann, ist der unterstützende Staat selbst zur Aufnahme der betroffenen Personen verpflichtet.

Um Rückführungen insgesamt effektiver zu gestalten, sollen vermehrt Abkommen mit Herkunfts- und Transitstaaten geschlossen werden. Hierbei soll ein Rückkehrkoordinator innerhalb der EU-Kommission unterstützend tätig sein, der zudem eng mit der Grenzschutzagentur Frontex zusammenarbeiten soll. 

Bewertung der Vorschläge

Die Kommissionsvorschläge überraschen nicht. Ob der angekündigte „Neustart“ in der europäischen Asylpolitik damit erwirkt werden kann, wird vielfach kritisch gesehen.

Einerseits werden individuelle Interessen der Schutzsuchenden teilweise stärker berücksichtigt als nach den derzeit geltenden Verordnungen (Berücksichtigung eines erweiterten Familienbegriffs und beruflicher Qualifikationen bei der Verteilung). Auch sind die Empfehlungen für den Ausbau des Resettlement-Programms zu begrüßen. Dem gegenüber birgt das Reformpaket jedoch eine Vielzahl von rechtlichen und tatsächlichen Problemen:

  • Die Ersteinreisestaaten im Süden Europas werden den Großteil der Grenzverfahren durchführen und damit weiterhin die Hauptlast tragen. Es stellt sich die Frage, wie die jetzt schon prekäre Situation (z.B. in dem Lager Moria) in den Transiteinrichtungen an den Außengrenzen zukünftig verbessert werden soll.
  • Zudem steht zu erwarten, dass die zeitlichen Vorgaben häufig nicht eingehalten werden können. Regelungen für diesen Fall fehlen, so dass zu befürchten ist, dass Menschen sich monate- bis sogar jahrelang in den Transiteinrichtungen aufhalten werden.
  • Unklar bleibt, wie besondere Schutzbedarfe, wie etwa Traumatisierungen, in Grenzverfahren erfasst und adäquat berücksichtigt werden. Inwiefern kann rechtliche Unterstützung, etwa bei der Einlegung des Rechtsmittels, in diesen Einrichtungen gewährleistet werden?
  • Langwierig werden vermutlich auch die Verhandlungen zu den Solidaritätsmaßnahmen werden. Das vorgesehene Prozedere ist derart komplex und in seiner rechtlichen Durchsetzbarkeit nicht eindeutig, so dass schnelle Einigungen nicht zu erwarten sind.
  • In seiner Effektivität nicht abzuschätzen ist der neu eingefügte Mechanismus der „Rückkehrpatenschaften“, der daran anknüpft, dass ein anderer Staat Abschiebungen durchführt. Abschiebungen scheitern in der Regeln nicht an der Durchführung der Maßnahme, sondern an rechtlichen (anhängiges Gerichtsverfahren oder Neubewertung der Lage im Herkunftsland) oder tatsächlichen (fehlende Rücknahmebereitschaft des Herkunftsstaates) Hindernissen. Für einen solchen Fall sehen die Kommissionsvorschläge jedoch keine Lösung vor.

Eine erste Bewertung der Vorschläge fällt daher auch eher nüchtern aus. Die Erfahrung der vergangenen Jahre hat gezeigt, dass komplexe Regelwerke nicht zu einem guten Migrationsmanagement führen. Für ein solches bedarf es vielmehr der Umsetzung menschenwürdiger Unterbringungssysteme, effizienter Asylverfahren und verbindlicher Regelungen für die Fälle, in denen Abschiebungen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich sind. Ein weiterer Ansatz, nämlich ein gutes und breit aufgestelltes Integrationsmanagement innerhalb der EU-Staaten, fehlt in den Vorschlägen ebenso. Ein Neustart in der EU-Migrationspolitik ist so nicht möglich.