
Der deutsche Sozialstaat ist unmittelbar mit dem Faktor Arbeit verbunden. Insofern wundert es nicht, dass die Debatte um mehr Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger immer dann aufkommt, wenn die Wirtschaftsleistung im Land schwächelt [1]. Gleichzeitig schreitet der demografische Wandel voran, der dazu führt, dass immer weniger Beitragszahlende eine stetig wachsende Gruppe an Leistungsempfangenden tragen müssen [2]. Dazu kommt, dass eine alternde Gesellschaft mit einer Zunahme an Gesundheitsbeeinträchtigungen, insbesondere chronisch-degenerativer Natur, assoziiert ist, wodurch sich die Inzidenz von Pflegebedürftigkeit erhöht [3], und das schneller als erwartet [4]. Dadurch steigen wiederum die Ausgaben für Gesundheit und Pflege an [2], die in Deutschland systembedingt ohnehin sehr hoch sind [5]; und im Verhältnis zu den Ergebnissen unverhältnismäßig erscheinen, gerade im internationalen Vergleich [6].
Es gibt also gute Gründe, um ausgabenbegrenzende Reformen im Gesundheitswesen anzustreben, wozu auch die Stärkung der Eigenverantwortung gehören kann, wie jüngst von der Bundesregierung bekannt gegeben [7]. Tatsächlich bewegt sich die Gesundheits- und Sozialpolitik ganz grundsätzlich in einem Spannungsfeld zwischen Autonomie und Fürsorge, zwischen Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger auf der einen und staatlicher Daseinsvorsorge auf der anderen Seite [8, 9]. Jeder dieser Pole hat seine Berechtigung, doch eine unverhältnismäßige Überbetonung des einen oder des anderen Elements führt langfristig zu instabilen Sozialversicherungssystemen. Es ist daher geboten, diese auszubalancieren, und gesundheitspolitisch zu gestalten.
Für mehr Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger sprechen viele gute Argumente, von ganz lebenspraktischen Wirkungen, wie einer Stärkung der Selbstwirksamkeit, einer Befähigung zur Aktivbürgerschaft, und einer Förderung der Gesundheitskompetenz, bis hin zu gesundheitsökonomischen Effekten, wie der Einsparung vermeidbarer Behandlungen und (Folge-)Kosten, gerade in alternden Gesellschaften [10, 11, 12]. Hinzu kommt, dass viele, gerade chronisch-degenerative Erkrankungen, die die größten Kostentreiber im Gesundheitswesen darstellen, lebensstil-assoziiert sind [12, 13], zumindest bis zu einem gewissen Grad [14]. So stellen etwa einseitige Ernährung, Stress, Bewegungsmangel, negative Beziehungen, Schlafmangel oder der Konsum von Genussmitteln gesicherte Risikofaktoren für eine Vielzahl an Diagnosegruppen dar [15, 16], die häufig auch Ursachen für den Verlust von Alltagsfähigkeiten oder Pflegebedürftigkeit sind [3]: z.B. Herzkreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, Atemwegserkrankungen, Muskuloskelettale Erkrankungen, Krebserkrankungen, Zahnerkrankungen, Suchterkrankungen, Psychische Erkrankungen usw.
Gleichzeitig, und hier enden die Möglichkeiten der individuellen Einflussnahme, ist der Lebensstil nur einer von vielen Einflussfaktoren auf Gesundheit oder Krankheit. Weitere Ursachen liegen z.B. in genetischer und epigenetischer Disposition, dem Geschlecht, aber auch in sozialen Determinanten, also gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und umweltbedingten Faktoren [17, 18, 19, 20], die über das individuelle Verhalten nur bedingt beeinflusst werden können. Dies gilt gerade auch für Unfälle, die zwar begrenzt vermeidbar [21], häufig aber auch „Pech“ oder „Schicksal“ sind, zumindest in der persönlichen Wahrnehmung.
Eine unmittelbar absolute Verantwortung für die eigene Gesundheit kann es schon allein deshalb nicht geben, weil Menschen hierfür über eine vollständige Gesundheitskompetenz verfügen müssten, von dem Wissen über Risiko- und Schutzfaktoren, bis hin zur Fähigkeit den Nutzen und Schaden von Behandlungen einschätzen zu können [14]. Vielmehr ist die Frage von Gesundheit und Krankheit nicht nur vor dem Hintergrund des individuellen Verhaltens, sondern immer auch im Kontext der Verhältnisse zu betrachten, in denen Menschen aufwachsen, lernen, arbeiten, ihre Freizeit verbringen und altern. So macht es etwa in gesundheitlicher Hinsicht einen Unterschied, ob man in Armut oder in Wohlstand aufwächst, der sich messbar – bis hin zu einer verkürzten Lebenserwartung – abbildet [22, 23, 24, 25]. Dazu kommt, dass die Möglichkeiten der Prävention insgesamt begrenzt sind, und in dem Leitbild der Eigenverantwortung immer auch die Gefahr des Missbrauchs und der Korrumpierung durch die „Schuldfrage“ steckt [26]. Wer ernsthaft krank wird, oder unter dauerhaften Gesundheitsbeeinträchtigungen leidet, hat sich nicht unbedingt „falsch“ verhalten, sondern kann einfach ungünstige Lebenschancen oder -risiken haben.
Auf der anderen Seite kann Eigenverantwortung auch als ein Ausdruck der Autonomie und Selbstbestimmung eines Menschen betrachtet werden, oder um es mit Kant zu sagen – als Merkmal eines „Vernunftwesens“ [27]. Grundsätzlich kann das Einräumen von Eigenverantwortung daher auch als Würdigung von persönlicher Freiheit betrachtet werden, ohne die eine individuelle Lebensgestaltung erst gar nicht möglich wäre. Eigenverantwortung ist damit auch eine Folge von Freiheitsrechten; je größer die individuellen Möglichkeiten, desto höher ist auch die Notwendigkeit diese Räume mit Eigenverantwortung zu füllen.
Umgekehrt müssen in einer liberalen Gesellschaft dann immer auch vermeintlich ungesunde Verhaltensweisen als individuelle Willensentscheidungen respektiert, und von der Solidargemeinschaft getragen werden. Nicht aus gesundheitsökonomischer Rationalität, sondern schlicht und ergreifend aus Menschlichkeit. Fehler machen, Scheitern, oder einfach kein Glück mit der Herkunft, der Arbeit, dem Wohnen, den sozialen Beziehungen oder anderen Lebensverhältnissen zu haben; all das gehört zum Leben dazu, und ist zutiefst menschlich. Genauso, wie auch Lust und Genuss für viele Menschen zum Wohlbefinden und zur Lebensqualität dazugehören [28], was andererseits auch wieder zu einem gesunden Leben beiträgt.
Neben der gesundheitswissenschaftlichen Perspektive ist dies ist auch eine Frage der Ethik. In der bedingungslosen Anerkennung menschlicher Bedürfnisse, Fehlbar- und Verletzlichkeiten durch die Gemeinschaft liegt nicht zuletzt immer auch ein kollektiver Ausdruck der Menschenwürde. Und genau an der Stelle, an der die individuellen Einflussmöglichkeiten auf die persönliche Gesundheit begrenzt sind – oder sogar enden, aus welchen Gründen auch immer, ist es an dem Kollektiv, also der Solidargemeinschaft, für das Individuum zu sorgen, strukturelle Ungerechtigkeiten auszugleichen, unterschiedliche Lebensweisen zu akzeptieren und den Einzelnen in seiner Not aufzufangen.
Dies ist das Versprechen unseres Sozialstaats; viele Gesunde finanzieren wenige Kranke oder Pflegebedürftige, in dem Wissen, dass Krankheit oder Pflegebedürftigkeit jeden ereilen kann [29]. Insofern hatte Margaret Thatcher unrecht, wenn sie sagte „Gesellschaft – die gibt es nicht“ [30]. Denn Gesellschaft konstituiert sich bereits durch die kollektive Sorge um den Einzelnen. Für uns als DRK ist die „Hilfe nach dem Maß der Not“ sogar konstituierend.
Für ein solidarisches Gesundheitswesen sprechen jedoch nicht nur moralische Argumente, sondern auch sozioökonomische Gründe [31, 32, 33, 34]. Denn eine gesunde Bevölkerung ist insgesamt produktiver und langfristig auch kosteneffizienter. Kranke Menschen, die sich Behandlungen nicht leisten können, fallen aus dem Erwerbsleben und fehlen der Wirtschaft. Haushalte, die übermäßig durch Eigenbeteiligung belastet werden, verlieren an Kaufkraft, können nicht mehr ausreichend zum Wirtschaftskreislauf beitragen und fallen in die Sozialhilfe.
Das gilt in ähnlicher Weise für die Pflege. Menschen mit Pflegebedarf, die keinen Zugang zu professioneller Pflege haben, müssen von ihren An- und Zugehörigen versorgt werden. Diese fehlen dann nicht nur während der Pflegezeit in der Wirtschaft und verlieren an Einkommen, sondern werden auch übermäßig gesundheitlich belastet. Allein die Eigenschaft „Pflegeperson“ ist ein signifikanter Risikofaktor für u.a. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Muskuloskelettale Erkrankungen, Depressionen und Angststörungen, bis hin zu einer messbar höheren Sterblichkeit [35, 36]. Kosten, die nicht durch die Pflegeversicherung gedeckt werden und die Mittel der Betroffenen übersteigen, verlagern sich in die Sozialhilfe, was die kommunalen Haushalte belastet und Investitionen in die Infrastruktur gefährdet.
Umgekehrt haben gesunde Menschen, die sich abgesichert fühlen, und nicht fürchten müssen, dass sie mit Krankheit oder Pflegebedürftigkeit allein gelassen sind, nicht nur mehr Vertrauen in den Staat und das politische System, sie sind auch eher dazu bereit unternehmerische Risiken einzugehen und damit die Innovationskraft zu stärken. Chronisch kranke Menschen wiederum, die durch gute Versorgung ausreichend stabil sind, können sich ihren Fähigkeiten entsprechend in das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem einbringen, statt diesem verloren zu gehen. Dies wäre auch mit Blick auf ein höheres Renteneintrittsalter wichtig.
Mit der Forderung nach mehr Eigenverantwortung allein, können die Herausforderungen, vor denen das Gesundheitswesen steht, daher nicht bewältigt werden [14, 26]. Eine gesunde Gesellschaft braucht einen gesunden Sozialstaat, sowohl im Hinblick auf Finanzstabilität, aber vor allem auch auf die Leistungsfähigkeit des Versorgungssystems [9]. Hierzu sind flankierende Reformen der Systemarchitektur erforderlich, schon allein um die Akzeptanz der Bevölkerung für mögliche private Mehrausgaben und/ oder Leistungskürzungen zu fördern.
Apropos Mehrausgaben; eine stärkere Selbstbeteiligung an Behandlung, Therapie und Pflege wird voraussichtlich nicht vermeidbar sein [2], zumindest wenn es bei der bisherigen Fragmentierung der Sozialversicherung im Allgemeinen, und dem Teilleistungsprinzip der Pflegeversicherung im Speziellen bleibt. Gleichzeitig darf jedoch Eigenverantwortung nicht zum Synonym von Eigenbeteiligung werden [10, 14]. Denn erst das Solidarprinzip in der Kranken- und Pflegeversicherung ermöglicht die Vergemeinschaftung ungleicher Risikoprofile, was Menschen mit hohen Gesundheitsbelastungen vor dem finanziellen Ruin bewahrt und die Gesellschaft insgesamt leistungsfähig erhält. Eine etwaige Selbstbeteiligung an den Gesundheitsausgaben muss daher stets paritätisch und sozialverträglich ausgestaltet werden [9]. Dabei gilt es auch starke Schultern stärker einzubinden, und Mehreinnahmen der gesetzlichen Pflichtversicherung durch einen Finanzausgleich der Privatversicherung zu prüfen, gerade auch vor dem Hintergrund, dass in der PKV vorrangig die „guten“ Risiken versichert sind.
Ebenso gilt es die Leistungserbringer im Gesundheitswesen in die Pflicht zu nehmen, denn Eigenverantwortung ist keine Einbahnstraße, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, zu der jeder etwas beitragen muss, also Kostentragende, Anbietende und Nutzende gleichermaßen [9]. Eine evidenz-basierte Konsolidierung der Leistungskataloge und Vergütungssysteme in Behandlung, Therapie und Pflege ist damit unumgänglich [2], genauso wie die Stärkung eines verantwortungsvollen und gemeinwohlorientierten Wirtschaftens der Leistungserbringer. Profite zu Lasten der Solidargemeinschaft sind zu vermeiden.
Gleichzeitig gilt es in Gesundheitsförderung, Prävention und Rehabilitation zu investieren, und insbesondere die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken, damit Eigenverantwortung auch gelebt werden kann [12]. Hierbei gilt es nicht nur das individuelle Verhalten, sondern auch die Verhältnisse in den Blick zu nehmen, denn Gesundheit entsteht da, wo wir leben [19, 20].