Ein großer Anteil der Beratungsfälle zu Diskriminierung und Rassismus in NRW bezieht sich auf Diskriminierungskategorien und/oder Lebensbereiche, die nicht vom erweiterten Rechtsschutz durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz umfasst sind. In nur 3,1% der abgeschlossenen Beratungsfälle im Jahr 2022 kam es zu einem gerichtlichen Verfahren und das, obwohl mehr als ein Viertel der Fälle im Vorfeld beraterisch als AGG-relevant eingeschätzt worden waren. Dafür kann es sehr verschiedene Gründe geben. Fest steht aber, zu wenige Menschen haben die Möglichkeit, sich gegen eine erlebte Diskriminierung rechtlich zur Wehr zu setzen. Es besteht Handlungsbedarf.
Dies ist eine der zentralen Erkenntnisse aus den Beratungsdaten des ersten gemeinsamen Jahresberichts des Netzwerks ada.nrw, der Anfang Dezember veröffentlicht worden ist. In Zukunft soll jährlich ein Jahresbericht des Beratungsnetzwerks gegen Diskriminierung erscheinen.
Wir haben die Autorin des Berichts, Mira Berlin (DRK-Landesverband Westfalen-Lippe e.V.), befragt, wie es zu dem Vorhaben kam, welche Ziele mit dem Bericht verfolgt werden und was das Besondere an ihm ist. Mira Berlin ist Projektleiterin des Modellprojekts: Dokumentation und Berichtswesen der verbandsübergreifenden Antidiskriminierungsarbeit der Freien Wohlfahrtspflege NRW und hat den Bericht in Zusammenarbeit mit Berater*innen aus dem Netzwerk verfasst.
Kannst du erst einmal kurz erklären, was das Netzwerk ada.nrw ist?
Sehr gerne. Das Netzwerk ada.nrw ist ein Beratungsnetzwerk gegen Diskriminierung in NRW. Es handelt sich um einen Zusammenschluss der 42 landesgeförderten Beratungsstellen gegen Diskriminierung in NRW (ADA-Beratungsstellen) in Trägerschaft von Mitgliedsorganisationen der sechs Wohlfahrtsverbände AWO, Caritas, Diakonie, DRK, Jüdische Gemeinden und des Paritätischen NRW. Jede ADA-Beratungsstelle im Netzwerk ist unabhängig und arbeitet eigenständig. Ihr Hauptanliegen ist jeweils die Begleitung und Stärkung von Ratsuchenden und Betroffenen von Diskriminierung.
Zum Netzwerk ada.nrw gehören darüber hinaus Begleitstrukturen wie die koordinierenden Stellen in den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege und verbandsübergreifende Modellprojekte. Im Netzwerk ada.nrw arbeiten wir an einer gemeinsamen Öffentlichkeitsarbeit und Berichterstattung sowie dem Aufbau einer Online-Beratung. Ein wichtiges Anliegen des Netzwerks ist es auch, die Qualitätssicherung durch juristische Begleitung, Dokumentation, Qualifizierung und Vernetzung sowie der Entwicklung gemeinsamer Beratungsstandards sicherzustellen.
Die Beteiligten im Netzwerk sind Teil des Landesprogramms »Integrationsagenturen NRW« und werden vom Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (MKJFGFI) gefördert. Das Netzwerk ada.nrw befindet sich noch im Aufbau und basiert auf dem Ausbau der Beratungsinfrastruktur gegen Diskriminierung in NRW in den Jahren 2020/2021.
Warum braucht das Netzwerk ada.nrw einen Jahresbericht und wer soll den Bericht lesen?
Rassismus und Diskriminierung sind gesellschaftlich verankert und gehören für viele Menschen in Deutschland zum Alltag. Nach einer Diskriminierung erleben Betroffene oft, dass sie nicht ernst genommen werden oder sich nicht dagegen zur Wehr setzen können. Die Freie Wohlfahrtspflege NRW und ihre Mitgliedsorganisationen setzen sich für gerechte Lebensverhältnisse und die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen in NRW ein und bieten deshalb Beratung bei Diskriminierung an.
Neben der individuellen Beratung und Begleitung gehören Bildungs- und Sensibilisierungs- sowie Öffentlichkeitsarbeit zum Aufgabenspektrum der Antidiskriminierungsarbeit. Da Rassismus und Diskriminierung gesellschaftlich verankert sind, muss Antidiskriminierungsarbeit auch strukturelle Arbeit umfassen. Ein gemeinsamer Jahresbericht bündelt die Erfahrungen vieler Beratungsstellen und kann – so die Hoffnung – eine Wirkung erzielen, die über die Möglichkeiten der einzelnen Beratungsstellen hinausgeht. Der Jahresbericht ist ein Teil der strukturellen Antidiskriminierungsarbeit.
Die Beratung war mit der Fluchtbewegung aus der Ukraine im Jahr 2022 beispielsweise vielerorts geprägt durch die Ungleichbehandlung verschiedener Geflüchtetengruppen. Wenn es in der Beratung um Staatsangehörigkeit oder den Aufenthaltsstatus ging, lagen die Diskriminierungsorte überdurchschnittlich häufig in Behörden. Die Antidiskriminierungsberatung hatte hier nur sehr begrenzte direkte Spielräume, wenn die Ungleichbehandlung auf Richtlinien beruhte, nahm aber eine wichtige Rolle bei der Begleitung und Stärkung Betroffener und der Information der Öffentlichkeit ein. Ein Jahresbericht greift solche Entwicklungen auf, macht sie sichtbar und benennt Verbesserungspotentiale.
Den Bericht soll deshalb jeder und jede lesen, insbesondere aber auch zuständige Entscheidungsträger*innen.
Was soll der Jahresbericht ada.nrw leisten?
Berater*innen und Beratungsstellen sammeln täglich Wissen und Erfahrung zum Thema Diskriminierung und dazu, wie Betroffene unterstützt und diskriminierende Strukturen und Praxen verändert werden können. Der Jahresbericht will diese Erfahrungen bündeln und zu einem größeren Bild zusammenfügen. Hierdurch können wir die gesellschaftliche Relevanz von Diskriminierung sichtbar machen, zeigen, wo und wie Diskriminierung stattfindet und welche Möglichkeiten und Grenzen die Beratung bei Diskriminierung hat. Aus den Beratungsdaten können bspw. Lücken im rechtlichen Diskriminierungsschutz und Schwächen im gesellschaftlichen Umgang mit Diskriminierung abgeleitet und gegenüber Politik und Öffentlichkeit verdeutlicht werden.
Ziel ist es, mit dem Bericht einen Beitrag zur Verbesserung der Situation und Handlungsmöglichkeiten Betroffener von Diskriminierung und der Antidiskriminierungsberatung zu leisten.
Was ist das Besondere an dem Bericht?
Der Jahresbericht ada.nrw analysiert nrw-weit die Beratungsfälle von 39 Antidiskriminierungsberatungsstellen über die verschiedenen Verbände und Vereine hinweg. Dies dürfte bislang einzigartig sein und bietet großes Potential. Möglich wird die gemeinsame Statistik dank einer onlinebasierten Software zur Dokumentation von Beratungsfällen, die durch den Antidiskriminierungsverband Deutschland (advd) entwickelt und in den ADA-Beratungsstellen in NRW Mitte des Jahres 2021 verbindlich eingeführt worden ist.
Die Veröffentlichung des Berichts ist ein Meilenstein für das Netzwerk ada.nrw und wir hoffen sehr, dass dieser und zukünftige Berichte auf Interesse in Politik und Öffentlichkeit stoßen werden.
Lesen Sie unbedingt hinein, Sie finden den Bericht und die zentralen Erkenntnisse unter: https://www.fachportal.ada.nrw/de/details/jahresbericht-2022-ada-nrw.html