Notunterkunft
Notunterkunft im Luisen-Gymnasium in München für Geflüchtete aus der Ukraine. Aufnahme und Registrierung der Flüchtlinge - 19.03.2022

Geflüchtete Menschen mit Behinderung: zur Relevanz einer systematischen Identifizierung

Geflüchtete Menschen mit Behinderungen bleiben oft unsichtbar. Unsere Studie zeigt, dass die systematische Identifizierung dieser Gruppe in Deutschland dringend notwendig ist. Katharina Babl vom Bayrischen Roten Kreuz berichtet im Gastbeitrag, warum dies nicht nur gesetzlich vorgeschrieben ist, sondern auch für die Gesundheit und soziale Teilhabe der Betroffenen von entscheidender Bedeutung ist.

Regionale Studie zur Untersuchung der Situation von geflüchteten Menschen mit Behinderungen

Im Rahmen der Abschlussarbeit zum Thema "Versorgung geflüchteter Menschen mit Behinderung aus der Ukraine" (Soziale Arbeit B.A.) wurde eine Studie durchgeführt, die die Identifizierung von aus der Ukraine geflüchteten Menschen mit Behinderung in einer ländlichen Region in Bayern näher betrachtet. 

Entstanden ist die Studie aus der regionalen Arbeit in der Geflüchtetenhilfe. Dort stellen sich immer wieder geflüchtete Menschen mit Behinderung vor, denen völlig unbekannt ist, dass es in Deutschland Unterstützungs- und Ausgleichsleistungen für Menschen mit Behinderung gibt: 

„Also sie hat eigentlich nur von dir [der Forscherin, im Rahmen der Geflüchtetenhilfe] was erfahren. Von dieser Möglichkeit. Und nur durch dich sind sie an Hausarzt gekommen. Also bis jetzt waren gar keine Informationen vorhanden.“ 
 

So können sie die ihnen zustehenden Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Das führt nicht nur zu Unannehmlichkeiten, sondern kann auch die gesundheitliche Lage oder die sozialen Verhältnisse verschlimmern. 

Verschiedene Wohlfahrtsverbände weisen immer wieder auf diese kritische Situation hin und in mehreren Studien wurde bereits dargestellt, dass die Ursache darin liegt, dass bestehende nationale und internationale Gesetze in Deutschland nicht berücksichtigt werden. 

Es gibt zahlreiche Gesetze, z.B. Grundgesetz, EU-Grundrechtecharta und EU-Aufnahmerichtlinie, und internationale Abkommen, z.B. UN-Behindertenrechtskonvention, die geflüchtete Menschen mit Behinderung in unterschiedlicher Art und Weise betreffen. Diese Gesetze und Abkommen besagen, dass Menschen nicht aufgrund ihrer Behinderung diskriminiert werden dürfen und dass die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung gefördert werden muss: 

Die Vertragsstaaten verbieten jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung und garantieren Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen. Zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierung unternehmen die Vertragsstaaten alle geeigneten Schritte, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten.  
(Art. 5 Abs. 2-3 UN-BRK) 
 

Um das zu sicherzustellen, müssen die besonderen Bedürfnisse von geflüchteten Menschen mit Behinderung bei ihrer Ankunft erfasst werden. Das ist nur möglich, wenn eine Behinderung zuverlässig und systematisch identifiziert wird. Zu einer derartigen Identifizierung von besonderer Schutzbedürftigkeit und der Sicherstellung der entsprechenden Versorgung sind die EU-Mitgliedsstaaten explizit gesetzlich verpflichtet. Ebenso muss Deutschland nach Art. 28 Abs. 2 UN-BRK geeignete Maßnahmen ergreifen, um Menschen mit Behinderung .. 

„den Zugang zu geeigneten und erschwinglichen Dienstleistungen, Geräten und anderen Hilfen für Bedürfnisse im Zusammenhang mit ihrer Behinderung zu sichern", sowie „Menschen mit Behinderungen [...] den Zugang zu Programmen für sozialen Schutz und Programmen zur Armutsbekämpfung zu sichern". 
 

Methodik der Studie

Zur Untersuchung der regionalen Situation wurden in der Abschlussarbeit vier qualitative, leitfadengestützte Interviews mit aus der Ukraine geflüchteten Menschen mit Behinderung geführt. Fragen und Antworten wurden während der Interviews von einer Sprachmittlerin übersetzt. Die Interviewten wurden aus den Ratsuchenden der Geflüchtetenhilfe sowie über eine regionale Chatgruppe von aus der Ukraine geflüchteten Menschen gewonnen. Die aus den Interviews gewonnenen Daten wurden mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring anhand spezifischer Kategorien analysiert. 

Ergebnis: fehlende Identifizierung von Schutzbedürftigkeit 

Die Studienergebnisse bestätigen auch regional das übergeordnete Problem: die besondere Schutzbedürftigkeit von geflüchteten Menschen, insbesondere das Vorliegen einer Behinderung, wird nicht systematisch identifiziert. Bei der Registrierung werden Daten aufgenommen und einzelne medizinische Untersuchungen, etwa ein COVID-Test und Lungenröntgen, durchgeführt. Fragen oder Untersuchungen zu einer möglichen Behinderung oder anderer besonderer Schutzbedürftigkeit gibt es nicht. Dabei machen auch Alter oder Sichtbarkeit der Behinderung keinen Unterschied: selbst bei einer sichtbaren Behinderung werden die Betroffenen nicht automatisch dahingehend befragt oder untersucht. 

Folglich erhalten die Betroffenen auch keine Information zum Thema Behinderung und zu möglichen Unterstützungsleistungen. Stattdessen erhalten Betroffene die nötige Information nur bei enormer Eigeninitiative oder wenn Fachkräfte in ärztlichen Praxen oder der Geflüchtetenhilfe auf die Behinderung aufmerksam werden. Durch diese fehlende Kenntnis zu möglichen Leistungen und den Anspruch darauf, können Leistungen auch nicht eingefordert werden.  

In den Interviews wurden die Betroffenen gefragt, welche Unterstützungsleistungen in Bezug auf ihre Behinderung sie sich in Deutschland wünschen würden. Die Antworten beziehen sich alle auf Leistungen der medizinischen Rehabilitation und der sozialen Teilhabe. So wünschen sie sich Hilfsmittel für den Alltag, Rehabilitationsmaßnahmen zur Linderung der Beschwerden und regelmäßige Untersuchungen zum Gesundheitszustand. Außerdem wünschen sie sich bedarfsgerechten Wohnraum, Unterstützung bei der Beantragung von Leistungen und vergünstigte Beförderung im öffentlichen Nahverkehr, um ärztliche Praxen und Behörden erreichen zu können. Die Wünsche beziehen sich also auf grundlegende Dinge der sozialen Teilhabe und der gesundheitlichen Versorgung. Daraus lässt sich folgern, dass die Grundversorgung unzureichend ist. 

Warum ist die systematische Identifizierung wichtig?

Aufgrund der gesetzlichen Situation, der Empfehlungen von Wohlfahrtsverbänden, der aktuellen Studienlage sowie der Ergebnisse der Studie der Abschlussarbeit scheint es unerlässlich, eine Behinderung oder andere besondere Schutzbedürftigkeit von geflüchteten Menschen zuverlässig zu identifizieren, um eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung sicherzustellen. Wird eine Behinderung nicht angemessen versorgt, droht eine Verschlimmerung und weitere gesundheitliche Folgen, die die Betroffenen kennen und fürchten: 

„Und ohne dementsprechende Versorgung hier in Deutschland haben die eben immer Angst, dass das [Ohnmachtsanfälle; Anm. d. Verf.] irgendwann mal passiert […]“ 


Darüber hinaus ist die systematische Identifizierung einer Behinderung auch notwendig, um eine bedarfsgerechte Unterkunft und dadurch ein sicheres Wohnumfeld zu ermöglichen, sowie die Chance für soziale Teilhabe zu bieten. 

Diskriminierung – eine allgegenwärtige Herausforderung 

Unabhängig von der Identifizierung der Behinderung muss hervorgehoben werden, dass geflüchtete Menschen mit Behinderung regelmäßig und an verschiedenen Stellen Diskriminierung aufgrund dieser Behinderung erleben: 

„Also der [Arzt; Anm. d. Verf.] hat gesagt, sie sieht nicht wie ein Invalide aus. […] Genau, dass dann ihre Invalidität eigentlich nicht so sichtbar ist, also ob sie zum Beispiel eine Hand fehlte oder Bein oder so, genau. Und sie sieht eigentlich super aus. Und so kriegt sie entsprechend in Deutschland gar nichts, hat er gesagt.“ 
 

Das zeigt, dass die Sensibilisierung der Bevölkerung im Allgemeinen und von Fachkräften im Speziellen weiterhin eine zentrale Aufgabe sein muss, um durch Aufmerksamkeit, Wissensvermittlung und Aufklärung gegen Diskriminierung vorzugehen. 

Ausblick

Behinderungen von geflüchteten Menschen werden in Deutschland nur zufällig erkannt, da es keine einheitliche systematische Methodik zur Identifizierung gibt. Dadurch ist die bedarfsgerechte Versorgung nicht gewährleistet, was negative Folgen für die Betroffenen nach sich ziehen kann. 

Die Identifizierung von geflüchteten Menschen mit Behinderungen ist jedoch durch internationales und nationales Recht gesetzlich vorgeschrieben. Daher ist es nötig, in Deutschland eine systematische Methode dazu zu entwickeln und anzuwenden. Solange das nicht auf Bundesebene geschieht, ist es zumindest regional nötig und auch möglich, die Identifizierung mit geringem Aufwand an verschiedenen Stellen im Prozess der Registrierung einzubinden. 

Ein Gastbeitrag von Katharina Babl, Bayrisches Rotes Kreuz