Verena Raschke, Leitung der Beratungsstelle für Suchtkranke und Angehörige im DRK KV Leipzig-Land

#drk_im_blick | „Der Schritt in die Beratung ist unfassbar schwierig. Wir haben große Achtung vor den Menschen, die zu uns kommen.“

Verena Raschke, 43 Jahre, ist Sozialtherapeutin und leitet die Psychosoziale Beratungsstelle für Suchtkranke und Angehörige im DRK KV Leipzig-Land. Jede Abhängigkeitserkrankung sei von Stigmatisierung betroffen, sagt sie. Sie habe ein Grundherz für suchtkranke Menschen, eine besondere Form der Empathie. Dieses Grundherz könne man auch in sich entdecken, wenn man noch nie etwas mit Sucht zu tun hatte. Sie selbst hat es so erlebt.

Wie groß ist Deine Einrichtung und was macht Ihr genau? 

Unsere Einrichtung hat fünf Mitarbeiter*innen, die sich vier Vollzeitstellen teilen. Wir beraten Menschen bei Problemen mit Alkohol, Glückspiel, illegalen Drogen, Medikamenten, Nikotin, Essstörungen oder im Umgang mit Medien. Außerdem sind wir Ansprechpartner*innen für die Familie, Freunde, Arbeitskolleg*innen oder aber für die Chef*in, die Unterstützung sucht, weil sie spürt, dass einer ihrer Mitarbeitenden möglicherweise betroffen ist. In der Beratung schauen wir, wo wir weiterhelfen können oder an welcher Stelle eine fachspezifische Weitervermittlung beispielsweise in stationäre oder ambulante Therapie notwendig ist. Außerdem sind bei uns fünf Suchtselbsthilfegruppen angegliedert, die räumlich über den Landkreis verteilt sind. Darin geht es vielfach um Probleme mit Alkohol. Die Gruppen werden von einem ehrenamtlichen Mitarbeiter geleitet, der selbst eine Abhängigkeit hat und schon lange abstinent lebt. Als Team arbeiten wir Hand in Hand. Auf meine Kolleg*innen kann ich mich hundertprozentig verlassen. 


Welche Tätigkeiten sind Dir besonders wichtig und warum? 

Das persönliche Gespräch mit den Betroffenen und ihren Angehörigen liegt mir besonders am Herzen. Der Schritt in die Beratung ist unfassbar schwierig. Wir haben große Achtung vor den Menschen, die zu uns kommen. Dieser Weg erfordert Mut und Überwindung, denn Sucht ist immer auch mit Scham behaftet. In der Beratung schauen wir erst einmal, was wird konsumiert und wieviel. Wie ist der aktuelle Stand. In den Gesprächen nehmen wir uns Zeit. Jede Beratungseinheit dauert fünfzig Minuten. Wir finden gemeinsam heraus, an welchem Punkt steht die Patient*in und ist für sie Veränderung überhaupt vorstellbar. Wenn ja, welche könnte es sein? Hat der oder die Betroffene das Bedürfnis aufzuhören? Wir schauen uns zusammen die möglichen Ursachen an. Das sind immer andere, das ist sehr individuell. Danach machen wir uns gemeinsam Gedanken, wie der Weg aussehen könnte und welche Unterstützung dafür nötig ist. Sucht ist eine chronische Erkrankung. Es ist wichtig dranzubleiben. Wir begleiten die Betroffenen im Durchschnitt zwei bis drei Jahre. Manche mehr, manche weniger. Aber zwei bis drei Jahre ist ein realistischer Zeitraum, soviel Zeit braucht Veränderung nun einmal.


Das macht auch etwas mit Dir selbst, wenn man die unterschiedlichen Schicksale hört, oder?

Es sind oft dramatische Ereignisse, die Menschen in diese Situation bringen. Menschlich fühlen wir zutiefst mit ihnen. Auf der anderen Seite halten wir immer Distanz. Da sind die Rollen Berater*in und Patientin*in völlig klar. Das ist wichtig, denn anderenfalls könnten wir ihnen auch gar nicht helfen. Wir teilen unsere Eindrücke im Team und haben auch regelmäßig eine Supervision mit einer Psychologin oder besprechen uns auch in Netzwerkgremien. Deswegen gelingt es uns, unser Erleben nicht mit nach Hause zu nehmen.


Wie hat sich Deine Arbeit durch die Pandemie verändert?

Wir hatten immer die Möglichkeit, auch Präsenztermine anzubieten. Für unsere Patient*innen war der persönliche Kontakt während des Lockdowns enorm wichtig. Dadurch, dass Sportvereine schließen mussten oder Familientreffen nicht stattfinden konnten, sind Strukturen weggebrochen. Manche der Betroffenen engagieren sich beispielsweise im Ehrenamt, andere nehmen an Arbeitsmaßnahmen teil, die über das Jobcenter vergeben werden. Nichts war mehr möglich. Das bedeutet, wichtige Abstinenzstrategien funktionierten von jetzt auf gleich nicht mehr, mussten neu entwickelt werden. Für unsere Patient*innen war das eine große Herausforderung. Umso wichtiger war es, sie in dieser Situation nicht allein zu lassen, für sie da zu sein. Das lief auch teils über Telefon oder über Email. Die wöchentlichen Selbsthilfegruppen durften nicht mehr stattfinden. Die Teilnehmenden haben das jedoch grandios gelöst. Sie haben untereinander per WhatsApp Kontakt gehalten und sich telefonisch gemeldet, wenn jemand in eine Krise zu abgleiten drohte. Diejenigen, die sich besonders gut verstehen, sind dann auch mal allein vorbeigefahren und mit der betreffenden Person spazieren gegangen. Denn ohne den wöchentlichen Termin in der Gruppe fehlte für viele der Anker.


Du hast einen vollen Tag, wofür müsste mehr Zeit da sein?

Leider muss der Austausch zwischen den Kolleg*innen, der für uns immens wichtig ist, manchmal zurückstehen, weil es nicht anderes geht. Auch der Dialog mit den verschiedenen Einrichtungen kommt teils zu kurz. Vor der Pandemie haben wir mit Fachkräften vom Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamtes zusammengesessen. Das hat dazu beigetragen, unseren Blick auf das Kindeswohl zu schärfen und auf der anderen Seite das Verständnis für Suchterkrankungen vertieft. Auch mit Fachkräften der Schuldnerberatung und Erziehungsberatungsstellen sind wir regelmäßig im Gespräch. Suchterkrankte Menschen kommen mit diesen Bereichen oft in Berührung. Deswegen ist es an der Stelle wichtig für Verständnis zu werben, den Betroffenen eine Stimme zu geben. Der persönliche Kontakt ist auch da unglaublich hilfreich. Es macht einen großen Unterschied, ob man sich kennt, wenn man miteinander telefoniert oder eben nicht. Für diesen Austausch müsste mehr Zeit sein.


Wie zeigt sich der Grundsatz der Menschlichkeit in Deiner täglichen Arbeitsweise?

Menschlichkeit ist für mich eine Grundhaltung. Jede Abhängigkeitserkrankung ist von Stigmatisierung betroffen. Wir nehmen hier jeden Menschen an, wie er ist. Genau an dem Punkt, an der er gerade ist. 


Was ist Sucht eigentlich? Man könnte denken, im Begriff sei das Wort Sucht enthalten, hat das etwas mit den Ursachen zu tun oder ist das zu einfach? 

Man kann eine Suchterkrankung mithilfe der ICD-10 bestimmen. Das ist eine Klassifikation der Krankheiten, die von der WHO herausgegeben wird. Darin werden für Suchtbestimmte Kriterien festgelegt. Manche Erkrankungen sind auch auf eine Art Modus festgelegt. Da übernimmt das Suchtmittel eine klare Funktion, zum Beispiel „Entspannung“. Wenn man mit den Betroffenen über Alternativen nachdenkt, können sie das Suchtmittel, nach einer Zeit der Entwöhnung, auch weglassen. Es gibt aber Betroffene, da übernimmt das Suchtmittel eine Funktion der Persönlichkeit. Hier ersetzt die Droge etwas. Bei Menschen, die schon sehr lange trinken, ist das beispielsweise häufiger so. Um auf das Suchtmittel verzichten zu können, muss erst eine persönliche Entwicklung in Gang kommen. Dabei geht es oft um grundlegende Fragen, beispielsweise wie geht der Betroffene mit Kränkung um? Spürt er oder sie überhaupt, dass es sich um Kränkung handelt? Liegt Wut darüber? Wie geht man mit Trauer um und vieles mehr. Dieser Weg ist für den Betroffenen mit Schmerz und großer Anstrengung verbunden. 


Welche Ausbildung hast Du und warum hast Du Dich bei deiner Berufswahl für die psychosoziale Suchtberatung entschieden?

Während meines Sozialpädagogikstudiums habe ich ein Praktikum in der DRK-Beratungsstelle gemacht, die ich jetzt leite. Mit Sucht hatte ich zuvor nie etwas zu tun. Das Thema hat mich damals aber sofort begeistert und ich habe die Menschen, die hier arbeiteten, so gemocht. Als Sozialpädagogin hat man ein breites Spektrum an Einsatzmöglichkeiten, man kann beispielsweise in der Schuldnerberatung arbeiten, im Gesundheitsamt oder in der Straffälligenhilfe anfangen. Ich habe mich nach Abschluss meines Studiums noch für die Zusatzausbildung zur Suchttherapeutin entschieden. Diese Ausbildung vermittelt die Besonderheiten der Suchterkrankung und schärft zugleich das Verständnis für die Betroffenen. Es war genau das, was ich machen wollte. Das DRK habe ich später noch als Bonbon obendrauf bekommen. Die Menschen, die Werte und das Miteinander. Ich arbeite jetzt seit achtzehn Jahren hier. Vorher war ich in einer Einrichtung der offenen Kinder- und Jugendarbeit in freier Trägerschaft tätig. 


Was unterscheidet Deine Rotkreuz Einrichtung positiv zu Deiner früheren Arbeitsstelle?

In unserem DRK Kreisverband hat man Freiheit und Spielraum. Wir können individuell auf Situationen und Betroffene eingehen und auch schnell reagieren. Beispielsweise, wenn wir einen hohen Zulauf an Betroffenen mit pathologischem Mediengebrauch feststellen, können wir dazu zeitnah eine Weiterbildung machen. 


Welcher der Grundsätze des Roten Kreuzes und Roten Halbmondes ist für Dich persönlich zentral und warum?

Neben der Menschlichkeit ist das die Unparteilichkeit. Wir helfen Menschen nach dem Maß der Not, in der sie sich befinden und geben den dringendsten Fällen den Vorrang. Das bedeutet, dass wir jede Patient*in individuell ansehen und mit ihr gemeinsam herausarbeiten, was sie jetzt braucht und wie es für sie weitergehen kann. Wir begleiten sie auf ihrem Weg und können immer wieder auch nach Alternativen suchen, wenn sich jemand zu viel vorgenommen hat.

Was gibt Dir bei den teils belastenden Geschichten der Patient*innen Mut und Zuversicht?

Zu sehen, dass Entwicklung möglich ist! Ich bin sehr dankbar, dass ich Veränderung begleiten darf. Ich erlebe, dass Menschen nach langer Abhängigkeit trocken oder clean leben. Häufig sind es aber gerade auch die kleinen Dinge. Eine meiner Patient*innen kenne ich bereits seit zehn Jahren. Sie hat es bisher nur sporadisch geschafft, in die Beratungsstelle zu kommen. Derzeit kommt sie in einem vierzehntätigen Rhythmus. Im letzten Jahr habe ich sie häufiger gesehen als in den gesamten neun Jahren zuvor. Diese Entwicklung ist so spürbar. Es macht mich glücklich, dass Menschen in unserer Beratung einen Ort finden, in dem sie sich aufgehoben und respektiert fühlen. 


In Deinen Worten spiegelt sich auch eine große persönliche Kraft. Woher kommt die?

In unserem Team unterstützen wir uns gegenseitig. Wir lassen auch mal raus, wenn uns etwas bewegt. Beispielsweise, wenn wir denken, wir hätten etwas anders oder besser machen können. Wir fangen uns gegenseitig auf. Für mich ist es wichtig zu sehen, dass das, was wir tun Sinn macht. Dass es für die Betroffenen Sinn macht, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Dass es Sinn macht, sich Zeit zu nehmen. Wenn man in der Suchthilfe arbeitet, braucht man ein Grundherz für suchterkrankte Menschen. Abgrenzungsfähigkeit und vieles andere kann man lernen. Man muss gut an sich selbst dranbleiben. Stets bei sich nachspüren, kann ich damit noch umgehen oder muss ich selbst in die Veränderung kommen. Dieses Grundherz kann man auch in sich entdecken, wenn man vorher mit Sucht noch nichts zu tun hatte. Ich habe es selbst erlebt. Es gibt auch besondere Momente, die mir Kraft geben. Manchmal gibt es Patient*innen, von denen wir nicht mehr glauben können, dass sie es schaffen, weil sie so oft rückfällig wurden. Und plötzlich sind sie einfach trocken. Wir wissen nicht warum, die Patient*in weiß es nicht. Das zu erleben, das ist einfach grandios. Einfach zu sehen, dass Menschen den Mut haben, sich auf diesen Weg zu begeben. Wenn jemand dreißig Jahre trinkt, ist der Weg mit Alkohol bekannt. Ihn wegzulassen, ist völlig neues Terrain.


Gibt es einen Gedanken, den Du teilen möchtest? Liegt Dir etwas besonders am Herzen?

Veränderung ist möglich und Behandlung sinnvoll. Wir erleben das immer wieder. Bei allen Rückschlägen und Hindernissen, Betroffene und Angehörige dürfen den Mut und die Zuversicht nicht verlieren! Der gesellschaftlichen Stigmatisierung halten wir entgegen, dass Sucht nichts mit Schwäche zu tun hat, es handelt sich um eine chronische Erkrankung. Wir sehen unsere Aufgabe auch darin, den Betroffenen in der Öffentlichkeit eine Stimme zu geben. 

Redaktionsteam
Heike HarenbergNatascha Baumhauer

In Kooperation mit
Stefanie Roth

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Das Interview ist Teil des Projekts „DRK erleben“ und wird mit Mitteln der GlücksSpirale gefördert.