Als ein dringendes Hilfegesuch aus einem Heim für Waisenkinder aus Dnipro die Bundeskontaktstelle erreichte, war guter Rat teuer. Wo können die 11 Kinder und Jugendlichen mit ihren Betreuungspersonen nur untergebracht und bedarfsgerecht versorgt werden – und das auch noch, ohne die Gruppe zu trennen? Der Zeitrahmen war eng, da Kampfhandlungen auch in Nähe der Einrichtung in Dnipro stattfanden.
Die Bundeskontaktstelle alarmierte daraufhin die Landeskoordinierungsstellen in den Bundesländern und bat um Meldung freier Kapazitäten in entsprechenden Einrichtungen. Glücklicherweise gab es bereits in 2022 Kontakt zum CJD Berchtesgaden im Rahmen einer erfolgreichen Unterbringung einiger Familien (darunter Menschen mit Behinderung) durch die Bundeskontaktstelle. Nach einem kurzen Anruf war klar: Der CJD Berchtesgaden ist erneut bereit Unterstützung in großer Not zu leisten und entsprechende Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
Obwohl die Zeit drängte und die Unterbringung in Berchtesgaden durch die sehr gute Vorarbeit der Mitarbeitenden vor Ort im Grunde vorbereitet war, gestaltete sich die Evakuierung aufgrund rechtlicher und bürokratischer Hürden teils sehr langwierig und schwierig. Es musste ein Einladungsschreiben von deutscher Seite ausgestellt werden, damit die Kinder und das Betreuungspersonal überhaupt aus der Ukraine ausreisen durften. Hier entwickelte sich ein Ringen darum, welche Stelle dieses Schreiben ausstellt. Nach längeren Verhandlungen und Klärungsgesprächen konnte sich sowohl der Landkreis als auch der Bund darauf einigen, gemeinsam zu unterzeichnen. Gleichzeitig sollte die „EU Solidarity Platform“ involviert sein, um zu gewährleisten, dass die Evakuierung der Kinder von der EU-Kommission gemonitort werden kann.
So war es erst nach knapp vier Monaten nach Eingang des Unterbringungsersuchens möglich, die Menschen tatsächlich zu evakuieren und in die Einrichtung zu bringen. Glücklicherweise war der CJD in diesem Zeitraum in der Lage in Vorleistung zu gehen und die Plätze vorzuhalten, andernfalls wäre eine Unterbringung vermutlich grundsätzlich fraglich gewesen.
Angesichts des Kriegsgeschehens und der humanitären Situation in der Einrichtung in der Ukraine lässt sich das gesamte Verfahren zumindest als ausbaufähig bezeichnen.
In Oberau im Berchtesgadener Land letztendlich angekommen, konnten die Kinder und Betreuungspersonen erstmal zur Ruhe kommen. Neben Einzelzimmern und besonders engagiertem Pflegepersonal stehen auch weitere medizinische Einrichtungen und Hilfeleistungen des CJD den Kindern in nächster Nähe zur Verfügung. Der Bauernhof nebenan, auf dem die Kinder Tiere streicheln können, kann kaum überboten werden.
Bei unserem Besuch der Einrichtung Anfang November konnten bereits enorme Verbesserungen des medizinischen und emotionalen Zustands der Kinder und Jugendlichen festgestellt werden. So verweigert beispielweise ein Kind der Gruppe jetzt seinen Rollstuhl, den er zuvor praktisch nicht verlassen hat bzw. konnte.
Die oberbayrische Idylle und vor allem die herzliche Betreuung des deutschen wie ukrainischen Pflegepersonals tragen somit offensichtlich schnelle Früchte. Die Versorgung ist also bestens gesichert. Doch die Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse – sowohl der Kinder und Jugendlichen als auch des ukrainischen Personals – wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Diese zugegebenermaßen komplexe Evakuierung hat erneut strukturelle Hürden verdeutlicht: Größter limitierender Faktor für die Unterbringung von geflüchteten Menschen mit Behinderung und/oder Pflegebedarf sind die stark begrenzten Kapazitäten in stationären Einrichtungen. Auch ambulante Strukturen sind an ihrer Belastungsgrenze angelangt.
Eine langwierige Klärung der Kostenübernahme erschwert die Situation der Einrichtungen zusätzlich. Diesen ist es nicht mehr zuzumuten bei den aktuell gegebenen Rahmenbedingungen auch noch Kostenübernahmen bei den Kostenträgern wiederholt einzufordern.
Bedingt durch die beschriebenen finanziellen Herausforderungen und knappen Ressourcen werden mittelfristig wohl nur noch größere Träger in der Lage sein, Geflüchtete mit besonderen Bedarfen aufzunehmen. Ohne entsprechende finanzielle Mittel können die Einrichtungen nicht mehr in Vorleistung gehen. Glücklicherweise konnte mit dem CJD Berchtesgaden ein Träger gefunden werden, der diese Möglichkeiten noch hat.
Aus Sicht des DRK muss das Verfahren in der Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten mit Behinderungen und/oder Pflegebedarf nachhaltig gestaltet werden. Dazu zählt (1) in erster Linie eine langfristige und adäquate Finanzierung von Ressourcen in der Pflege und Eingliederungshilfe. Der Kapazitätsnotstand wächst bei gleichzeitig steigendem Bedarf von Pflegeplätzen. Das führt bereits jetzt zu enormen Engpässen in der Versorgung der Menschen – ob geflüchtet oder nicht.
Zu den nachhaltigen Strukturen gehört auch (2) die frühzeitige ärztliche Identifizierung der Bedarfe der Menschen. So könnten Erstaufnahmeeinrichtungen (EA) entlastet und die Menschen bedarfsgerecht versorgt werden.
Menschen mit Behinderungen und/oder Pflegebedarf werden auch in Zukunft den Weg nach Deutschland auf sich nehmen. Diese Menschen müssen schnell und adäquat versorgt werden!
An dieser Stelle möchten wir uns nochmal herzlich bei den Mitarbeitenden des CJD Berchtesgaden für ihren Einsatz und die Möglichkeit, die Einrichtung und die geflüchteten Menschen besuchen zu dürfen, bedanken.
Pawel Erenburg & Niklas Muskulus