Die Corona-Krise ist für alle Menschen in Deutschland der erheblichste Einschnitt in ihr Leben seit dem Ende des 2. Weltkriegs. Die Einschränkungen des Lebens sind von Anfang an lebhaft diskutiert und mit den gesundheitlichen Fortschritten abgewogen worden. Insbesondere die Auswirkungen für Kinder und Jugendliche gelangten jedoch erst spät in das Blickfeld der Entscheiderinnen und Entscheider. Inzwischen befassen sich wissenschaftliche Studien mit genau diesen Fragestellungen. Die Ergebnisse erster Studien zeigen hierbei deutlich, was die Corona-Krise für Kinder und Jugendliche, Familien und die Kinder- und Jugendhilfe bedeutet. Diese wurden im AGJ-Transferdialog am 29. Juni 2020 präsentiert und mit Expertinnen und Experten diskutiert.
Die Anpassungsleistungen von Familien waren enorm
Familien mussten ihren Alltag schnell auf die neue Situation einrichten und haben flexibel reagiert. Wie Kinder und Familien das wahrgenommen haben, wurde in der DJI Studie „Kind sein in Zeiten von Corona“ Alexandra Langmeyer u.a. und in der Studie „Kinder, Eltern und ihre Erfahrungen während der Corona-Pandemie“(KiCo) Sabine Andresen und Wolfgang Schröer untersucht.
Die Studien zeigen deutlich auf, dass in der “Corona Zeit” sowohl positive wie auch negative Effekte auf das Zusammenleben in der Familie festgestellt werden konnten. So zeigten sich Familien froh darüber, dass der Organisationsstress zwischen verschiedenen Institutionen und Freizeitaktivitäten abnahm und sie mehr Zeit füreinander hatten. Besonders Kinder fanden häufig das Mehr an Zeit mit den Eltern bereichernd. Dies zeigt, dass für Familien und ein gutes Aufwachsen von Kindern andere Zeitmodelle förderlich wären.
Die Koordination des Arbeitsalltages bei gleichzeitigem Homeschooling und Kinderbetreuung hingegen wurden von Eltern und Kindern als erhöhter Stressfaktor wahrgenommen. Eltern beschreiben Erschöpfung, Existenzängste sowie Schuldgefühle sowohl gegenüber Kindern als auch Arbeitgebern. Wie intensiv diese Belastung empfunden wurde, hing dabei stark von äußeren Faktoren, wie zum Beispiel den Anforderungen des Arbeitgebers sowie der finanziellen Situation der Familien ab.
Was wir brauchen ist eine verstärkte Beschäftigung mit Lebens- und Arbeits(zeit-)modellen, die Zeiten für Sorgearbeit flexibler miteinschließen und Familien und Sorgegemeinschaften ganzheitlich mitdenken. Eine sinnvolle Verbindung von Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung und –erziehung muss zukünftig einfacher möglich sein. Hierfür braucht es innovative und tragfähige Modelle.
Die Krise hat Kinder verunsichert
„Warum kann ich nicht mehr in die Kita?“, „Warum kann ich meine Freunde nicht treffen?“, auf diese Fragen ihrer Kinder mussten Eltern Antworten finden. Mit diesen Fragen standen die Eltern in den meisten Fällen nicht allein da. Es gab mehrheitlich gute Kontakte zu den pädagogischen Fachkräften der Einrichtungen, die Kindern liebevoll per Post oder Mail schrieben, sich per Videobotschaft meldeten und Eltern unterstützen. Dennoch geben auf der anderen Seite 23% der Familien an, dass Kinder gerade zu Beginn der Pandemie keinen Kontakt mit den Fachkräften hatten. Wie und wie schnell die Einrichtungen den Kontakt halten und ausbauen konnten, war oftmals auch eine Frage der Organisation und der digitalen Kommunikations-Infrastruktur. Ein wichtiges Ziel – auch für das DRK – ist es daher Einrichtungen resilienter und auch in Krisen handlungssicherer zu machen. Dazu gehört auch das Thema Digitalisierung.
Für eine gute Begleitung der Kinder benötigen Einrichtungen neben einem vernünftigen Internetzugang auch über die entsprechende stationäre wie mobile Hardware. Zudem erfordert es mehr Kompetenzen der pädagogischen Fachkräfte für die Nutzung digitaler Angebote. Wir benötigen Konzepte für diese pädagogische Begleitung. Thematisierung dieser möglichen Situation mit Kindern und Eltern bereits im “Regelbetrieb” der Einrichtungen, um sie einzubeziehen und alle Beteiligten vorzubereiten.
Junge Menschen sehen und beteiligen
"Unsere Lebensrealität als Jugendliche kam in der Öffentlichkeit nicht vor. Wir sind mehr als Schülerinnen und Schüler" – dies ist die Kernbotschaft der Studie „Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen (JuCo). In der Debatte um Corona Maßnahmen fühlten sich junge Menschen oft reduziert auf die Familienkindheit und ihre Rolle als Humankapital im Bildungsbereich. Die Krise zeigt: Beteiligung junger Menschen ist nicht krisenfest. Jugendliche fordern zurecht stärker in die Diskussion, um die Öffnung der Schulen und Einrichtungen nach den Sommerferien miteingebunden zu werden.
Nicht über sie, sondern mit Ihnen als Hauptnutzerinnen und -nutzer soll gesprochen werden. Hier ist auch die Rolle des DRK als Anwalt für Kinder und Jugendliche gefragt, sich in kommunalen Gremien für die Beteiligung junger Menschen stark zu machen.
Rolle der Kindertageseinrichtungen in der Krise
Während der Hochzeit der coronabedingten Einschränkungen in Deutschland wurde Kindertagesbetreuung nur angeboten als “Notbetreuung” – ein ambivalenter Begriff. Zum einen ein hilfreicher Anker für Eltern in Notsituation, zum anderen werden durch diesen Begriff Kinder darauf reduziert als Notfall angesehen und während der Arbeitszeit ihrer Eltern betreut zu werden. Der Begriff löste zurecht viele kontroverse Diskussionen aus und hat hoffentlich eine kurze Nutzungszeit. Dass Kindertageseinrichtungen aber zur kritischen Infrastruktur gehören, wird nach den letzten Monaten niemand mehr bestreiten können. Als solche spielen sie auch eine große Rolle in der Forschung.
Die als Pilotstudie angelegte Untersuchung zur „Situation von Notbetreuungskitas in Zeiten von Corona“ des DJI widmet sich den Erfahrungen der Fachkräfte, Leitungen und Träger in der akuten Zeit der Corona-Krise. Erfragt wurde unter anderem, wie die Auswirkungen auf den pädagogischen Alltag erlebt wurden, das Verhalten und das Wohlbefinden von Kindern und die Situation des Personals.
Die ersten Ergebnisse der Studie zeigen bereits jetzt, dass Fachkräfte durch einen der kleineren Gruppengröße geschuldeten besseren Fachkraft-Kind Schlüssel mehr auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen konnten, doch zugleich die Möglichkeiten der Beteiligung und Mitbestimmung der Kinder am und im Alltag durch Infektionsschutzmaßnahmen deutlich minimiert wurden. Diese führten zu einem pädagogischen Roll-Back in die gruppenbezogene Arbeit.
Fachkräfte und Eltern fühlten sich zudem verunsichert durch neue Vorschriften und Maßnahmen, die oftmals extrem kurzfristig, teilweise von Freitag auf Montag umzusetzen waren. Wie man neue Regeln hingegen Kindern vermittelt und mit ihnen gemeinsam lebt, in dieser Herausforderung zeigten Fachkräfte ihr pädagogisches Können. Kreative Lösungen waren gefragt und das System zeigte seine Flexibilität.
Die Grenzen von Flexibilität und pädagogischen Kompetenzen wiederum zeigten sich deutlich an den Stellen, an denen Leitungen und Fachkräfte sich laut der Studie allein gelassen fühlten. Hierzu gehörte zum Beispiel, dass oftmals Einrichtungsleitungen die schwerwiegende Entscheidung, welche der Familien Anspruch auf die begrenzten Plätze haben, treffen und dies den betroffenen Eltern erläutern mussten.
Der Schutz der Fachkräfte selbst in der Pandemie spielte zunächst eine eher untergeordnete Rolle. Das machen die befragten Einrichtungen sehr deutlich. Nicht nur gehören eine größere Anzahl der Fachkräfte selbst zur Risikogruppe oder muss die Betreuung eigener Familienangehöriger organisieren. Wie dieser Schutz gut gewährleistet werden kann und gleichzeitig die Interaktion mit den Kindern gewährleitstet werden kann, erforschte die Studie „Schützende Maßnahmen gegen Infektionen in Kindertagesbetreuung“ der Fliedner Fachhochschule in Düsseldorf. Demnach scheint das sogenannte Face-Shield (durchsichtige Gesichtsmaske) eine gute und schützende Alternative für pädagogische Fachkräfte im Umgang mit Kindern zu sein.
Weitere Schritte und Vorbereitungen auf eine mögliche 2. Welle
Wie sich das Infektionsgeschehen weiter entwickeln wird kann im Moment niemand voraussagen. Besonders in der Erkältungszeit im Herbst/Winter wird wieder vermehrt mit mehr erkrankten Kindern und Mitarbeitenden und in der Folge auch mit Schließungen von Einrichtungen zu rechnen sein. Damit Familien dann gut aufgefangen und begleitet werden, braucht es bereits jetzt innovative Ideen und Konzepte der Einrichtungen, Träger und der Kommunen.
Klare Kriterien für mögliche Schließungen, Kommunikationsstrategien und Pläne für Varianten eines eingeschränkten Betriebs gehören ebenso dazu wie Konzepte zum Schutz von Mitarbeitenden. Aus Sicht des DRK wären darüber hinaus auch Teststrategien in allen Bundesländern für Kinder und Fachkräfte hilfreich, um Familien Eindeutigkeit und Sicherheit vermitteln zu können.
Wie kann es uns gelingen, die systemrelevante Infrastruktur so auszubauen, dass sie Familien auch flexible Angebote machen kann? Was brauchen Familien, was brauchen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, um im Arrangement mit der Situation durch einen Virus wie Corona zu leben? In der Abschlussdiskussion des Transferdialoges wurde die Diskussion auch mit Beteiligung des DRK begonnen. In unseren verbandlichen Arbeitszusammenhängen gilt es sie nun weiterzuführen, passgenaue Angebote für uns mit Kindern, Jugendlichen und Familien zu finden. Hierbei wird es wichtig sein, die zwischen März und Juni gemachten Erfahrungen der Einrichtungen in die Diskussionen und neu zu erarbeitenden Konzepte einfließen zu lassen. Dazu sind wir mit unseren Fachkolleginnen und –kollegen in den DRK-Landesverbänden in einem engen Austausch.
Die vollständige Dokumentation des AGJ-Transferdialogs mitsamt den Vortragsfolien, Links zu Studienergebnissen und Aufzeichnung der Abschlussdiskussion finden Sie auf der Webseite der AGJ.