Soziale Angebote im Spiegel der Covid-19-Pandemie
Der Soziale Sektor wurde durch die Covid-19-Pandemie und die ergriffenen Infektionsschutzmaßnahmen vor bis dato unbekannte Herausforderungen gestellt: Einrichtungen mussten (temporär) schließen, Angebote konnten nicht mehr erbracht werden, Hilfesuchende fanden nicht mehr die dringend notwendige Unterstützung und Beratung. Man sollte meinen, dass die gesellschaftliche Relevanz der Freien Wohlfahrtspflege und ihrer sozialen Angebote dadurch schlagartig klar wurde. Die Bundesregierung hat mit den Schutzpaketen und insbesondere dem Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG) wirksame Maßnahmen umgesetzt und die soziale Infrastruktur nachhaltig gestützt. Allerdings berichten diejenigen, die sich für diese Maßnahmen eingesetzt haben auch davon, dass sie teilweise auf massives Unverständnis und einige Wissenslücken gestoßen sind
Aus dieser Bilanz ergehen einige Handlungsaufträge, um die gesellschaftliche Rolle der Freien Wohlfahrtspflege zu stärken und besser kommunizieren zu können. Für das Deutsche Rote Kreuz bedeutet dies mit Blick auf seine einzigartige hybride Rolle als nationale Hilfsgesellschaft und Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege eine Standortbestimmung der Sozialen Arbeit im DRK anzustoßen.
Die Rolle der Sozialen Arbeit im DRK
Mit seinem vielfältigen Angebot an sozialen Hilfen richtet sich das DRK gezielt an die vulnerablen Gruppen der Gesellschaft mit (hochgradig) individuellen Unterstützungsbedarfen und hält hierfür bundesweite Strukturen bereit. Während die Themen Erziehung und Pflege eine breite Verankerung im DRK haben und öffentlich bekannt sind, vervollständigt sich das Spektrum seiner sozialen Hilfen jedoch erst durch die Einbeziehung der unterschiedlichen sozialarbeiterischen Angebote. Diese reichen von der Sozialen Beratung (u.a. Schuldner- und Insolvenzberatung, Migrationsberatung, Suchtberatung) über die Jugendhilfe und Schulsozialarbeit bis hin zu Angeboten der Behindertenhilfe.
Es sind genau diese sozialen und sozialarbeiterischen Angebote der Sozialen Arbeit, die bereits vor Ausbrechen der Covid-19-Pandemie wichtig waren und nun sowohl durch den Pandemieverlauf als auch die zu beobachtenden und häufig erst zeitverzögert einsetzenden Auswirkungen weiter in den Fokus gerückt werden: eine Zunahme von Ver- und Überschuldung, ein Anstieg von Suchterkrankungen und -tendenzen und Folgen von sozialer Isolation für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche uvm. Die notwendige Anerkennung, dass die gesellschaftlichen Bedarfe an Sozialer Arbeit bereits vorher wichtig waren und die verfügbaren Angebote die Bedarfe bereits dann nicht bzw. nur unzureichend decken konnten, geht in der öffentlichen Diskussion jedoch gerne unter.
Bedarfe erkennen: Unterschätze Arbeitsfelder aufwerten, Soziale Arbeit stärken
Die Gliederungen des DRK kommen bei der vorläufigen Bilanzierung der Covid-19-Pandemie und ihrer Auswirkungen zu eindrücklichen Ergebnissen und fürchten die zunehmende Belastung ihrer sozialarbeiterischen Angebote über die bereits bekannten Bedarfe hinaus. Angesichts des klar zu identifizierten Expansionstrends der Inanspruchnahme Sozialer Arbeit ergibt sich für das DRK der Auftrag, die bestehenden Arbeitsfelder auf mögliche Ausbaupotentiale zur besseren Erreichbarkeit und Versorgung der Zielgruppen zu prüfen. Hieraus ergeben sich wichtige Potentiale, das Leistungsspektrum und Profil des DRK zu stärken. Die Verbandsrückmeldungen erteilen zudem den klaren Auftrag, das Profil des DRK und den gesellschaftlichen Mehrwert seiner Dienste auch in der Öffentlichkeit besser wahrnehmbar zu platzieren und die zur Aufwertung Sozialer Arbeit notwendigen politischen Weichenstellungen einzufordern.
Der Einsatz für die sozialen Angebote schließt sich nahtlos an den anwaltschaftlichen Vertretungsauftrag des DRK an und ist als klares Mandat zu verstehen, aktiv an der Förderung und Aufwertung der sozialen Angebote und damit verbunden auch der sozialen und gesundheitlichen Berufe mitzuwirken.
#ZukunftWohlfahrt: Selbstverständnis, Standortbestimmung & Perspektive
Um diesem Auftrag nachzukommen, haben sich Führungs- und Fachkräfte interessierter DRK-Gliederungen am 21. April im Rahmen des etablierten Formats #ZukunftWohlfahrt unter dem Motto „Soziale Arbeit – Trends und Perspektiven“ ausgetauscht und status quo und Potentiale der Sozialen Arbeit im DRK diskutiert.
In fachlichen Workshops wurden einerseits Fragen eines klareren sozialen Profils und einer zielgerichteteren Kommunikation und andererseits Herausforderungen und Potentiale für die Soziale Arbeit durch den Megatrend Digitalisierung diskutiert. Den Auftakt zur inhaltlichen Auseinandersetzung übernahm Prof. Dr. Ingo Bode als geladener Gastredner mit einer grundsätzlichen Einordnung des Begriffs Soziale Arbeit und dem hieraus erwachsenden Anspruch.
Rolle & Anspruch Sozialer Arbeit
Die Vermutung, der deutsche Wohlfahrtsstaat sei ohne das breite Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit nicht denkbar, ist naheliegend. Diese Annahme spiegelt sich nicht nur in den zahlreichen Angeboten wider, die unter dem Begriff der Sozialen Arbeit zusammengefasst werden (können). Auch das große Spektrum sozialarbeiterischer Berufe und Einsatzfelder zeigt, wie vielfältig Soziale Arbeit ist und wie weitreichend ihr Einfluss auf die moderne Gesellschaft. Dabei ist es gar nicht so einfach zu bestimmen, was Soziale Arbeit ist (und ausmacht) und was nicht.
Prof. Dr. Ingo Bode hob in einem Gastbeitrag auch aus historischer Perspektive die sprachliche Unschärfe der verwendeten Begriffe hervor und definierte Soziale Arbeit als „intensive Arbeit an der Person“ mit einem dezidierten gesellschaftlichen bzw. politischen Handlungsauftrag, sich mit sozial abweichendem Verhalten bzw. "unnormalen" Lebensverhältnissen auseinanderzusetzen. Sozialarbeiterische Angebote sollen der gesellschaftlichen Integration dienen und hätten das Mandat, zur „Normalisierung" von Lebensweisen beizutragen. Diese Integrationsfunktion sei im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung immer weniger vom Ehrenamt getragen worden, sondern habe sich in ein diversifiziertes und beruflich institutionalisiertes Arbeitsfeld verlagert - ungeachtet des weiterhin bestehenden Mehrwerts ehrenamtlicher bzw. wohlfahrtsverbandlicher Aktivitäten. Mit Blick auf zukünftige Bedarfe sei die Erweiterung bzw. Verschiebung von Zielgruppen wesentlich, wobei der Mitte der Gesellschaft mehr Aufmerksamkeit zuteilwürde. Diese Klientel habe bislang noch wenig Berührungspunkte mit sozialarbeiterischen Angeboten, müsse also trotz ihrer zunehmenden Relevanz erst erreicht und sensibilisiert werden.
Dies haben wir herausgearbeitet und sehen hier für das DRK den Auftrag, Soziale Arbeit stärker zu vertreten und ihre Rolle als gesellschaftlich notwendig herauszustellen.
Die Selbstverständlichkeit Sozialer Arbeit
Paradox wird diese Analyse beim Blick auf die gegenläufigen Entwicklungen hinsichtlich des Kosten- und Erwartungsdrucks Sozialer Arbeit. Während einerseits neue Bedarfe an Angeboten Sozialer Arbeit entstehen und sich hieraus neue Wachstumspotentiale für den sozialen Sektor ergeben, stehen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege andererseits angesichts der zunehmenden Formalisierung ihrer Arbeit und dem Wunsch sowie Anspruch nach Wirkungsmessung vor zunehmend schwer aufzulösenden Konflikten. Zusätzlich erschwert werden diese Entwicklungen über die häufig angespannte Personalsituation im Bereich der Sozialen Arbeit, das Image ihrer Berufsbilder und die daraus resultierenden Herausforderungen bei der Gewinnung von geeigneten Arbeitskräften.
Obwohl der gesellschaftliche Wandel (u.a. Individualisierung von Lebensentwürfen, Prekarisierung) die Bedarfe an professioneller sozialarbeiterischer Hilfe kontinuierlich steigen lässt, schwächen zunehmend restriktive Rahmenbedingungen und die abnehmende finanzielle Ausstattung der Angebote den Stellenwert der Sozialen Arbeit in sowohl den Verbänden als auch der öffentlichen Wahrnehmung. Dieser Befund ist umso widersprüchlicher, je mehr im Detail auf die Angebotsvielfalt und die Inanspruchnahme Sozialer Angebot in den Blick genommen wird. Soziale Arbeit ist über die Zeit zu einem selbstverständlichen Teil der Infrastruktur geworden. Ihr politischer Auftrag und ihr gesellschaftlicher Mehrwert seien hingegen zunehmend in den Hintergrund gerückt. Die Gründe hierfür lägen unter anderem in der institutionellen Struktur der Wohlfahrtsverbände, aber auch in jüngeren Skandalen und ihrer zu beobachtenden politischen Nähe. Dieser status quo führt trotz der klar zu beobachtenden Bedarfsentwicklung dazu, dass sie die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege bei der Herausstellung ihrer gesellschaftlichen Aufgabe und der Relevanz ihrer Leistungen und Angebote einem zunehmenden Misstrauen und Legitimationsvorbehalt ausgesetzt sehen.
Handlungsaufträge für das DRK
Die Diskussionen des Fachtags haben Potentiale aufgezeigt und Handlungsaufträge formuliert. Auf dieser Basis gibt sich das DRK folgende Ziele:
Mehr begriffliche Sorgfalt
Zur genaueren Bestimmung seines eigenen Selbstverständnisses und seiner Angebote fördert das DRK das Bewusstsein für mehr begriffliche Sorgfalt. Hierfür werden die häufig missverstandenen und synonym verwendeten Begriffe Soziale Arbeit, soziale Dienstleistungen, soziale Hilfen, Wohlfahrtsarbeit etc. im eigenen Sprachgebrauch abgrenzt und ihre Verwendung entsprechend der jeweiligen Aussagekraft im Sinne einer konsistenten Kommunikation hinterfragt.
Der Sozialen Arbeit mehr Gewicht verleihen
Zur Schärfung des eigenen Profils arbeitet das DRK an der kontinuierlichen Stärkung und dem Ausbau ihrer sozialarbeiterischen Angebote. Bedarfe sollen identifiziert und Potenziale zum Wachstum genutzt werden, um als Wohlfahrtsverband sozialarbeiterische Angebote zielgerichtet ausbauen zu können. In diesem Zuge soll in Absprache mit den Verbandsgliederungen der Stellenwert Sozialer Arbeit gestärkt und der Verband verstärkt sensibilisiert werden. Begleitet werden sollen diese Bemühungen hinzu einem Ausbau und der Stärkung der Angebote von einer ganzheitlichen Kommunikation zur öffentlichen Stärkung und Aufwertung der Sozialen Arbeit.
Zielgerichtete Kommunikation
Der wiederkehrende Wettbewerb um die Verankerung sozialer Angebote im öffentlichen Bewusstsein wird der Tragweite ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gegenüber den hilfebedürftigen Zielgruppen nicht gerecht. Für die Kommunikation der Wohlfahrtsverbände bedeutet dies, dass sie ihre Systemrelevanz als Träger Sozialer Arbeit besser vermitteln müssen. Dies erfordert als Ergebnis der Diskussionen eine neue Form des Storytellings, das einerseits den klaren Mehrwert durch die eigenen Angebote bzw. Szenarien mit ihrem Wegfall illustriert und andererseits mit aussagekräftigen Zahlen die Wirksamkeit ihrer Arbeit unterstreiche.
Chancen der Digitalisierung nutzen
Die Covid-19-Pandemie hat die Grenzen analoger Angebote aufgezeigt. Das DRK möchte diesem Befund Rechnung tragen und mit der zunehmenden Umsetzung digitaler Angebote dafür Sorge tragen, dem wachsenden Bedarf an Sozialer Arbeit zu begegnen. Mit dem Ausbau niedrigschwelliger digitaler Zugänge sollen sozialarbeiterische Angebote sollen Zielgruppen neue Kontaktmöglichkeiten eröffnet werden und auch vorher unerreichte, aber auf Hilfe angewiesene Personen erreicht werden. Auch für die eigene Öffentlichkeitsarbeit der Gliederungen und Einrichtungen solle in Zukunft zunehmend auf digitale Kommunikationskanäle zurückgegriffen werden, um die sozialen Angebote besser bewerben und ihren Mehrwert einer breiten Masse verständlich zu machen. Dieser Auftrag geht mit der kritischen Beschränkung einher, dass der notwendige Digitalisierungsschub nicht alleine aus eigenen Mitteln bewerkstelligt werden kann, sondern es für die zielgruppengerechte Digitalisierung der Angebotsstrukturen auf den sozialen Sektor zugeschnittene Investitionsmaßnahmen und notwendige politische Weichenstellungen benötigt.
Ausblick: Von der Selbstverständlichkeit zum Selbstverständnis
Insbesondere vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen zeigt sich in aller Deutlichkeit die Systemrelevanz der sozialen Angebote. Damit eng verbunden sind angesichts finanzieller Schieflagen der Kommunen die Fragen ihrer Finanzierungssicherheit sowie mit Blick auf die zukunftssichere Ausgestaltung ihrer Angebote auch die Beschäftigungssicherung und die Personalgewinnung. Im Zuge seiner verbandlichen Austauschformate #ZukunftWohlfahrt wird das DRK auch weiterhin Diskussionen initiieren, um wertvolle Impulse zur Profilstärkung aufzugreifen und im engen Austausch mit seinen Gliederungen die drängenden Fragen für das DRK von morgen zu diskutieren.