Die diesjährige re:publica steht unter dem Motto »too long; didn’t read«. Das Kürzel tl;dr steht im Netz seit jeher für schnelleren Informations-Konsum. Einem Konsum, der kaum noch Diskurs zulässt. Wenn wir – und damit meine ich die digitale Zivilgesellschaft – aber unsere Zukunft wirksam gestalten wollen, müssen wir uns bemühen, einander zu verstehen. Und das heißt auch, den ›Deep Dive‹ in die Gedankenwelt der anderen zu wagen!
Um miteinander ins Gespräch zu kommen, sind wir dieses Jahr mit einem Stand und einem Lightning-Talk auf der re:publica. Wir wollen diskutieren, wie unsere Gesellschaft, wie sozialer Zusammenhalt und wie das Leben der »most vulnerable« im post-digitalen Zeitalter aussehen. Wir tun dies natürlich auch, um als DRK Präsenz zu zeigen. Wir tun dies aber vor allem, weil wir uns mitverantwortlich sehen für die Gestaltung des digitalen Wandels in Deutschland, Europa und der Welt.
Szenarien zur Gesellschaft von Morgen
Um den digitalen Wandel miteinander gestalten zu können, wollen wir gemeinsam nach vorn blicken. Nach vorn in eine Zukunft, in der das Digitale zur ›Neuen Normalität‹ geworden ist. In kleinen Workshops am Stand (täglich 11, 14 und 17 Uhr) und in Diskussionen mit den Besucherinnen und Besuchern der re:publica wollen wir Inputs sammeln – Inputs für Szenarien möglicher Zukünfte.
Zwei Gedankengänge will ich dazu hier gleich aufschreiben:
1. Emotionaler Mensch
Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa untersucht seit Jahrzehnten die Veränderung von Zeitstrukturen westlich-abendländischer Gesellschaften. Seine Diagnose: Die Beschleunigung moderner Gesellschaften droht den Menschen in eine »Beziehung der Beziehungslosigkeit« (Rahel Jaeggi) zu stürzen, die zu Depressionen und Burnout führt. Dieser »Entfremdung« stellt Rosa das Konzept der »Resonanz« entgegen, das das Frankfurter Zukunftsinstitut unter anderem in seiner Trendstudie »Siegeszug der Emotionen« aufgreift.
Der digitale Wandel, so die Autorinnen und Autoren, macht den Weg frei zu einer »Resonanzgesellschaft«. Einer Gesellschaft, in der Emotionen von größter Bedeutung sind. Schon heute stößt das rationale Denken – einst der heilige Gral der Aufklärung – an seine Grenzen, wenn sich Komplexität nicht mehr reduzieren sondern nur noch ›surfen‹ lässt. Diese Fähigkeit – Komplexität wie Wellen zu reiten anstatt sie zu reduzieren – wird im post-digitalen Zeitalter sehr viel wichtiger sein als heute.
Wolf Lotter hat wohl recht, wenn er in der März-Ausgabe von brand eins schreibt, dass die Welt nicht nur aus klassifizierbaren Routinen besteht, die Computer berechnen könnten. Das gilt auch für die Zeit nach der Digitalisierung! Emotionale Bindung in Wertegemeinschaften und die Fähigkeit zur Imagination wünschbarer Zukünfte – dann eben die nach dem post-digitalen Zeitalter – werden noch lange den Menschen vorbehalten sein, die mit Bauch, Herz und Kopf bei der Sache sind.
Fazit:Menschsein im post-digitalen Zeitalter wird mehr mit Emotionen als mit rationalem Denken zu tun haben.
2. Fremdbestimmter Mensch
Der israelische Historiker Yuval Noah Harari zeichnet in seinem internationalen Bestseller »Eine Geschichte von Morgen« den Weg zu einer neuen Spezies Mensch: Dem »Homo Deus«, einem technik-optimierten Wesen, das von den Maschinen, die es selbst schuf, existentiell abhängig ist ohne noch irgend eine Chance zu haben, auch nur im Ansatz zu verstehen, wie sie funktionieren. Der Homo Sapiens verliert die Kontrolle und der Humanismus weicht einer Datenreligion, die den Menschen endgültig in die Peripherie gesellschaftlicher Wandlungsprozesse katapultiert.
Für die amerikanische Ökonomin Shoshana Zuboff steht fest, dass die Menschheit schon heute am Scheideweg zu einem in der Geschichte beispiellosen »Überwachungskapitalismus« steht. Sie analysiert neue, digitale Märkte, auf denen Menschen schon heute nicht mehr als Rohstoff-Quellen sind – Lieferanten von Verhaltensdaten. Internet-Konzerne wie Google verarbeiten diese Daten zu Vorhersageprodukten, die auf »Verhaltensterminkontaktmärkten« – zum Beispiel Google Ads – dem Höchstbietenden verkauft werden.
Ob sich der Mensch wirklich zum »Homo Deus« entwickeln wird, ist noch nicht raus. Dass allerdings der ›Daten-Behaviorismus‹ auch außerhalb der Internet-Wirtschaft bemerkenswerte Blüten schlagen kann, sollte spätestens mit der Diskussion um das Chinesische Social Credit System sonnenklar sein.
Fazit:Menschsein im post-digitalen Zeitalter wird mehr mit Fremd- als mit Selbstbestimmung zu tun haben.
Das sind natürlich nur zwei Gedanken zur möglichen Zukunft im Post-Digitalen. Es gibt sicher noch viele andere! Am unserem Stand, bei unserem Lightning-Talk und natürlich hier in den Kommentaren wollen wir gern noch viel Gedanken sammeln und diskutieren.
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