Über 13 Millionen Menschen mussten seit 2011 ihre Heimat in Syrien verlassen. Etwa die Hälfte von ihnen lebt inzwischen als Binnenvertriebene in Flüchtlingslagern im eigenen Land. Diejenigen Menschen, die Syrien verlassen haben, leben zum großen Teil in den Nachbarländern: in der Türkei, in Jordanien oder im Libanon. Allein im Libanon leben nach Zahlen des UNHCR etwa 900.000 syrische Geflüchtete, andere Schätzungen gehen eher von 1,5 Millionen aus, wobei das Land insgesamt eine Bevölkerung von knapp 7 Millionen zählt.
Eine Dekade der Verluste
Die Lebenssituation geflüchteter Menschen, die als Binnenvertriebene im Norden Syriens oder als Geflüchtete etwa im Libanon leben, ist nicht mit der Situation von in Deutschland lebenden syrischen Geflüchteten vergleichbar. Während Syrerinnen und Syrer in Deutschland sich in aller Regel in materieller Sicherheit befinden, gilt dies für Menschen in Syrien oder im Libanon keineswegs.
Was jedoch wohl alle Syrerinnen und Syrer eint: Sie blicken auf ein Jahrzehnt zurück, das geprägt wurde von Angst, vom Verlust von Angehörigen, Freundinnen und Freunden, aber auch von verpassten Gelegenheiten, verlorenen Träumen und Zukunftsaussichten. Die kürzlich veröffentlichten Ergebnisse einer vom IKRK in Auftrag gegebenen Studie zeigen die Perspektive einer Generation, die ihre Jugend und ihr junges Erwachsensein an den Konflikt verloren hat.
Für die Studie wurden 1.400 Syrerinnen und Syrer zwischen 18 und 25 Jahren in Syrien, im Libanon und in Deutschland befragt. Dabei werden Narben sichtbar, die durch den langhaltenden Konflikt entstanden sind. Bis vor einigen Jahren war Syrien noch ihre Heimat, der Ort, an dem sie zur Schule gingen, an dem ihre Familie lebte und sie ihre persönlichen Zukunftspläne schmiedeten. Rückblickend sagt Youssef, der heute in Deutschland lebt, in einem der Interviews: "Vor dem Krieg war es das schönste Land der Welt." Heute ist Syrien ein zerstörtes und gebeuteltes Land und eine Rückkehr scheint aussichtslos.
Aus der Krise in die Krise – Fluchtort Libanon
Nach offiziellen Zahlen sind es knapp eine Million Syrerinnen und Syrer, die aktuell im Libanon leben. Dort gibt es keine Strukturen der Flüchtlingshilfe, wie wir sie etwa aus Deutschland kennen und die syrischen Geflüchteten sind von humanitären Hilfeleistungen abhängig. Erschwerend kommt hinzu, dass sich auch die Situation der libanesischen Bevölkerung in den letzten Jahren massiv verschlechtert hat. Die libanesische Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise, die Inflation treibt die Preise teils ins Unermessliche. Medikamente und Babynahrung sind vielerorts kaum zu bekommen und die Pandemie verschlimmert die Situation zusätzlich. Mitten in dieser Abwärtsbewegung zerstörte eine gigantische Explosion am 4. August 2020 den Hafen von Beirut und auch weite Teile der Altstadt der libanesischen Hauptstadt. Pamela Saab vom Libanesischen Roten Kreuzberichtet:
"Es ist sechs Monate später und wir sehen immer noch überall die Zerstörung, Menschen fragen einen auf der Straße nach Medikamenten, die sie hier in den Apotheken nicht mehr bekommen. Die Explosion hat die Bedürfnisse auf allen Ebenen um ein Vielfaches vergrößert. Wir haben schon in einer Krise gelebt – 50 % der libanesischen Bevölkerung lebt mittlerweile unter der Armutsgrenze – und die Explosion hat das nur noch verschlimmert. Jetzt müssen sich die Menschen nicht nur Gedanken machen, wie sie Essen besorgen, sondern auch, wie sie ihr Zuhause wiederaufbauen können."
Die Hilfsprogramme des Libanesischen Roten Kreuzes und des DRK richten sich grundsätzlich an alle Menschen im Land, also an Geflüchtete und Einheimische gleichermaßen. Doch die Spannungen im Land wachsen weiter an und eine Rückkehr der Geflüchteten aus dem gebeutelten Libanon in das weitgehend zerstörte Syrien erscheint aussichtslos.
Fluchtort Deutschland
In Deutschland lebten nach den Zahlen des Ausländerzentralregisters Ende 2019 knapp 790.000 Menschen mit syrischer Staatsbürgerschaft. Die Zahl der Menschen aus Syrien, die Asyl in Deutschland suchen, ist zwar rückläufig, aber es ist nach wie vor die größte Gruppe aller Schutzsuchenden. Die Lebensbedingungen für Geflüchtete hierzulande sind etwa im Vergleich zum Libanon relativ sicher: Staat, Bundesländer und Kommunen sorgen für Unterbringung und Versorgung und, wenn das Bleiberecht positiv eingeschätzt wird, Sprach- und Integrationskurse. Zudem bieten Wohlfahrtsverbände, Vereine und Initiativen im ganzen Land Unterstützung, zum Beispiel durch Betreuung in Unterkünften, Beratung und viele lokale, auch ehrenamtliche, Projekte. Allerdings darf auch nicht aus dem Blick geraten, dass die Integration in der neuen Umgebung lange dauert, dass die Zugänge zu Bildung und Arbeit nicht ohne Hürden zu bewältigen sind und dass die Angst um Verwandte und Freunde, die noch in Syrien oder den Nachbarländern leben, groß ist.
Auch wenn die Lebenssituation in Deutschland eine andere ist als im Libanon oder in Syrien selbst: Die Dekade der Krise, die Erlebnisse der Verfolgung, die Flucht in die Ungewissheit, die Angst um Familie und Freunde – all das sind auch für diejenigen, die in Deutschland oder anderen sicheren Ländern Schutz gefunden haben, anhaltende Belastungen. Nicht nur, aber ganz besonders für junge Menschen.
10 Jahre Syrien-Krise – eine Kampagne gegen das Vergessen
Das DRK unterstützt wie viele andere Nationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften die Arbeit des Syrischen Arabischen Roten Halbmondes und des Libanesischen Roten Kreuzes. Unsere Kollegin Oana Bara,Kommunikations-Delegierte des Deutschen Roten Kreuzes, berichtet regelmäßig aus der Region auf https://blog.drk.de/. Mit der heute startenden Kommunikations- und Fundraisingkampagne wollen wir als DRK dazu beitragen, die anhaltende Krise und die Menschen in dieser Konfliktregion nicht zu vergessen.
Von Inga Matthes & Rüdiger Fritz
Weitere Informationen:
A Decade of Loss: Syria's Youth after Ten Years of Crisis | ICRC
Pressemitteilung der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften