Flüchtlingszelte stehen im nordgriechischen Idomeni am Grenzzaun zu Mazedonien (2016).
Flüchtlingszelte stehen im nordgriechischen Idomeni am Grenzzaun zu Mazedonien (2016).

Die Reform des Europäischen Asylsystems kann Geflüchtete in vulnerabler Lage am schwersten treffen

In den letzten Monaten sind die Verhandlungen über die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vorangekommen. Am 28. April veröffentlichte die deutsche Regierung ihre Position zur Reform. Knapp sechs Wochen später, am 8. Juni, einigte sich der Europäische Rat auf seine Position für die anstehenden weiteren Verhandlungen.

Die Verhandlungen um den Pakt werden die EU-Migrationspolitik auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, beeinflussen - und weitreichende Konsequenzen für die Rechte von Schutzsuchenden haben. Viele vorgeschlagene Änderungen (sowohl von der EU-Kommission als auch vom Europäischen Rat oder dem Parlament), sofern sie am Ende umgesetzt werden, werden weitere Schutzsuchende in vulnerable Lage versetzen und weitere Vulnerabilitäten produzieren. [1]

Das Rotkreuz EU Büro in Brüssel forderte in der heutigen Pressemitteilung die EU-Entscheidungsträger auf, sich auf die Rechte und das Wohlergehen der Menschen zu konzentrieren, von denen sich viele in vulnerabler Lage befinden.

In diesem Blogbeitrag möchten wir nur einige Punkten aus der Reform aufgreifen und darstellen, welche Auswirkungen sie auf Schutzsuchende in vulnerabler Lage, haben könnten.

Der Grundsatz der Menschlichkeit

Im Zeichen der Menschlichkeit setzt sich die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung für den Schutz, die Gesundheit, das Wohlergehen, das friedliche Zusammenleben und ein Leben in Würde aller Menschen ein. Im Bereich Migration unterstützen wir als DRK Migrantinnen und Migranten unabhängig vom Herkunftsland, von der sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu bestimmten Bevölkerungsgruppen, dem Aufenthaltsstatus oder der Religionszugehörigkeit, allein nach dem Maß ihrer Not. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Gruppen, die in besonders vulnerabler Lage sind.

Das Screening an den EU-Außengrenzen

Die Screening-Verordnung zielt darauf ab, die rasche Entscheidung darüber zu erleichtern, wer für Asylverfahren zugelassen wird, und wer zurückgeschickt werden sollte. So sollen Schutzsuchende nach einer ersten obligatorischen Überprüfung ihrer Identität entweder an Rückkehrverfahren, Grenzverfahren oder regulären Asylverfahren auf dem „Festland“ weitergeleitet werden. Durch die rasche Weiterleitung an das entsprechende Verfahren entscheidet das Screening über die Zukunft der Schutzsuchenden, ohne alle relevanten Aspekte gründlich zu berücksichtigen - und ohne ausreichende Informationen über den Prozess bereit zu stellen.

Der Zugang zu den Screening-Standorten für nichtstaatliche und humanitäre Organisationen bleibt in den Vorschlägen des Europäischen Rates und der EU-Kommission nur diskretionär – also dem Ermessen der Behörden vorbehalten.

Jedoch müssen gründliche Gesundheits- und Schutzbedürftigkeitsprüfungen für jeden, der ankommt und das Verfahren durchläuft, obligatorisch sein, da in vielen Fällen Schutzbedürftigkeit nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Wenn Schutzsuchende als schutzbedürftig identifiziert werden oder wenn es Anzeichen für eine Schutzbedürftigkeit gibt, müssen sie unverzüglich an geeignete Aufnahmeeinrichtungen und -dienste weitergeleitet werden.

Die Ergebnisse der Bedarfserhebung von geflüchteten Menschen mit Behinderungen zeigen, dass selbst im deutschen Aufnahmesystem die Identifizierung von Geflüchteten mit Behinderungen nicht flächendeckend erfolgt, so dass in vielen Fällen Behinderungen nicht erkannt werden und Schutzsuchende nicht adäquat versorgt werden. Eingeschränkter Zugang zu Gesundheits- und Pflegeversorgung, Mangel an geeigneten Unterkünften und barrierefreien Informationen sind nur einige der größten Versorgungslücken in Deutschland. Wie soll dann die Identifizierung in einem Schnellverfahren an den EU-Außengrenzen funktionieren?

Evita Armouti, senior policy and advocacy officer aus dem Rotkreuz EU Büro in Brüssel sieht im Pakt auch die folgende Gefahr:

"Die lange Liste von Gründen für Grenz- und andere Arten von beschleunigten Verfahren im Pakt lässt vermuten, dass die systematische Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz im gesamten EU-Gebiet die Ausnahme sein wird. Bei dieser Art von Verfahren können individuelle Beurteilungen aufgrund der kurzen Zeitspanne für Befragungen und der Schwierigkeiten beim Zugang zu rechtlicher Unterstützung nicht angemessen durchgeführt werden. Wir befürchten, dass Personen mit besonderen Schutzbedarfen, deren Prüfung mehr Zeit und Ressourcen erfordert, durch das Raster fallen werden."


Soll die Screening-Verordnung implementiert werden, wäre der uneingeschränkte Zugang humanitärer und anderer Organisationen zu den Screening-Standorten ein erster wichtiger Schritt, um sicherzustellen, dass Schutzsuchende eine angemessene Beratung und Unterstützung erhalten können. Informationen und Aufklärung über Rechte, menschenwürdige Unterbringung und Versorgung sind unerlässlich.

Inhaftierung während der Grenzverfahren

Die beschleunigten Grenzverfahren [2] würden für eine Vielzahl von Personen gelten, die internationalen Schutz beantragen, unter anderem in bestimmten Fällen auch für Familien mit Kindern ab 12 Jahren oder andere vulnerable Personen. Die Verfahren an den Grenzen könnte dazu führen, dass Schutzsuchende unwürdigen Lebensbedingungen ausgesetzt sind und aufgrund der kurzen Fristen, des schwierigen Zugangs zu Rechtsberatung und der Hindernisse bei der Ausübung von Rechtsmitteln vom Schutz ausgeschlossen werden.

Besonders besorgniserregend ist, dass die Mitgliedstaaten nach dem aktuellen Vorschlag Antragstellende während des gesamten Grenzverfahrens einschließlich eventueller Rückführungsverfahren in Haft nehmen können. Diese erweiterte Möglichkeit der Inhaftierung wird sich sehr negativ auf Schutzsuchende auswirken, die sich bereits in einer vulnerablen Lage befinden, und wird weitere Vulnerabilitäten kreieren.

Schwedisches Rotes Kreuz verfügt über langjährige Erfahrung in der direkten Arbeit mit Kriegsverletzten und Folteropfern.

"Inhaftierung verschlimmert nur die Not von Menschen, die in ihrem Herkunftsland oder auf dem Weg bereits äußerst schwierige und potenziell traumatische Erfahrungen erlebt haben und Schutz und Unterstützung benötigen. Die Inhaftierung von besonders schutzbedürftigen Gruppen, einschließlich Kindern, ist besonders schädlich. Selbst eine kurze Inhaftierung beeinträchtigt das physische und psychische Wohlbefinden von Kindern."

Schwedisches Rotes Kreuz

Die Inhaftierung während der Grenzverfahren stellt auch uns im DRK vor viele Fragen:

"Wie geht man mit den Menschen um, die in die Grenzverfahren kommen? Werden sie festgehalten? Haben sie dort Zugänge zu angemessener Beratung? Wo werden sie dann hingeschickt? Da ist für uns noch sehr viel offen."

Herr Dr. Steinke, Bereichsleiter für Jugend und Wohlfahrt im DRK in seinem Interview mit RND.

In den kommenden Monaten werden weitere Verhandlungen über die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geführt. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Verhandlungen mit einem tiefen Verständnis für die realen Auswirkungen auf die Schutzsuchenden anzugehen und eine Reform anzustreben, die die Menschenrechte der Schutzsuchenden wahrt und die Mechanismen zur Ermittlung und Bewältigung individueller Bedürfnisse und Vulnerabilitäten verbessert.

Die Übersicht über die aktuellen Vorschläge zur Reform wurde mithilfe der Materialien des Rotkreuz EU Büros erstellt.

Quellen:

[1] Viele (Wohlfahrts-)organisationen, darunter die Mitglieder der BAGFW: der Paritätische, Diakonie, Caritas und die AWO, haben zu der vereinbarten Position des Europäischen Rates Pressemitteilungen veröffentlicht.

[2] Grenzverfahren sind beschleunigte Verfahren, in denen ein Antrag auf internationalen Schutz geprüft wird. Sowohl nach dem Vorschlag der EU-Kommission als auch nach dem des EU-Parlaments soll die Dauer 12 Wochen betragen, einschließlich die Klage gegen eine negative Entscheidung. In der Praxis hat sich gezeigt, dass die Anerkennungsquote bei Fällen, die in Grenzverfahren behandelt werden, niedriger ist als bei Fällen, die reguläre Verfahren durchlaufen. In diesem Zusammenhang können keine angemessenen Einzelbewertungen durchgeführt werden, da es für die Schutzsuchenden schwierig ist, ihre Anträge innerhalb kurzer Zeit zu begründen.

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